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Königl. Württ. Ministerium des Innern, Stuttgart, 20.11.1913, Nr. III 3352

Überwachung der Kinematographen und Behandlung von Gesuchen der Kinematographenunternehmer um Befreiung von den Vorschriften über die bürgerliche Feier der Sonn- , Fest- und Feiertage

Betreff: Überwachung der Kinematographen und Behandlung von Gesuchen der Kinematographenunternehmer um Befreiung von den Vorschriften über die bürgerliche Feier der Sonn- [Sonntage], Fest- [Festtage] und Feiertage.

I. Die Vorträge, die der Professor Dr. Robert Gaupp in Tübingen am 29. April ds. Js. zu Reutlingen über die gesundheitlichen Gefahren der Kinematographen für die Jugend und am 21. Mai ds. Js. zu Tübingen über den Kinematographem [!] von medizinischen und psychologischen Standpunkt sowie der Professor Dr. Konrad Lange in Tübingen im Anschluss an den letztgenannten Vortrag Dr. Gaupp über den Kinematographen vom ethischen und ästhetischen Standpunkt gehalten haben *), zeigen, dass in den Kinematographen des Landes vielfach Bilder mit sittlich bedenklichem und teilweise grob, geschmacklosem, lediglich auf Nervenkitzel, Reizung der Sinnlichkeit, Erregung von Grauen, Schrecken, Furcht und Entsetzen berechnetem Inhalt (sogenannte Schundfilme) öffentlich vorgeführt werden.

*) Von diesen Vorträgen ist der erste in der Sonntagsbeilage des "Schwäbischen Merkurs" Nr. 219 vom 11. Mai 1912 ("Schwäbische Kronik") [!] abgedruckt, die beiden letzten sind in der 100. "Flugschrift des Dürerbundes" zur Ausdruckskultur enthalten. Von der Flugschrift wird den K. Oberämtern in nächster Zeit ein Abdruck zugehen.

Es ist nun zwar beabsichtigt, diesem Unwesen durch die Einführung einer für das ganze Land geltenden Prüfung der kinematographischen Bilder vor deren erster öffentlicher Vorführung entgegenzutreten und den Besuch der Kinematographen durch jugendliche Personen unter sechzehn Jahren zu beschränken.

Bis jedoch das hiezu erforderliche Gesetz zur Verabschiedung gelangt, wird immerhin noch einige Zeit vergehen.

Die K. Stadtdirektion und die K. Oberämter werden daher beauftragt, den Darbietungen der in ihrem Bezirk ansässigen Kinematographen besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden und jetzt schon, im Benehmen mit den zuständigen Ortspolizeibehörden darauf hinzuwirken, dass Bilder der bezeichneten Art mehr und mehr aus den Kinematographen verschwinden. Wenn es nicht gelingt, die Kinematographenunternehmer dazu zu bestimmen, dass sie regelmässig neue Bilder vor der erstmaligen Vorführung der Ortspolizeibehörde anzeigen und einer amtlichen Prüfung unterstellen, so ist wenigstens darauf Bedacht zu nehmen, dass mittels fortgesetzten Besuchs der Vorstellungen durch geeignete Beamte oder Personen, die sich im Interesse des Schutzes der heranwachsenden Jugend gegen die Gefahren der Kinematographen zur Beihilfe bei der Überwachung derselben erbieten, ein Überblick über den Charakter der Darbietungen und nötigenfalls genügende Grundlagen für ein Verbot der ferneren Vorführung ungeeigneter Darstellungen gewonnen werden.

II. Da die grosse Mehrzahl der Kinematographenunternehmer des Landes für die in § 6 der K. Verordnung vom 27. Dezember 1871/27. Mai 1895 genannten Festtage und für die Karwoche regelmässig um Befreiung von dem aus § 8 Abs. 2 dieser Verordnung sich ergebenden Verbot öffentlicher kinematographischer Vorstellungen nachsucht und diese Befreiung eine Ausnahme von den allgemein geltenden Vorschriften über die bürgerliche Feier der Sonn-, Fest- und Feiertage darstellt, die nur dann zulässig ist, wenn gegen den Inhalt der öffentlichen Vorstellungen, die an solchen Tagen veranstaltet werden wollen, keine Bedenken bestehen, so wird das Ministerium den Unternehmern kinematographischer Vorstellungen einschliesslich der solche Vorstellungen im Zusammenhang mit anderen Darbietungen veranstaltenden Schaustellungs-Unternehmer (z. B. Besitzer von Spezialitätentheatern) bis auf weiteres die etwaige Erlaubnis zur Veranstaltung solcher Vorstellungen an den oben bezeichneten Festtagen und in der Karwoche nur noch unter der Bedingung erteilen, dass sie an den betreffenden Tagen ausschliesslich solche Bilder vorführen, die vorher von einem höher gebildeten Beamten des Oberamts (der Stadtdirektion) unter Zuziehung von Vertrauenspersonen (Sachverständigen), bei denen nach Beruf oder Vorbildung das für die sittliche und ästhetische Beurteilung kinematographischer Bilder erforderliche Verständnis vorausgesetzt werden kann, auf Kosten der Unternehmer geprüft und vom Oberamt als zur öffentlichen Vorführung an den betreffenden Festtagen oder Tagen der Karwoche geeignet erklärt worden sind. Bei der Auswahl der zuzulassenden Bilder hat das Oberamt darauf Bedacht zu nehmen, dass auf alle Fälle die sogenannten Schundfilme ausgeschlossen bleiben, ebenso namentlich auch geschmacklose Darstellungen religiöser Stoffe. Bilder mit heiteren Szenen harmlosen Inhalts brauchen nicht ganz ausgeschlossen zu werden, zumal wenn sie gesunden Humor zeigen, sollen aber in einem und demselben Programm nur in Abwechslung mit verhältnismässig mehr Bildern ernsten Inhalts vorkommen. Über die Zulassung der Bilder ist dem Unternehmer auf Wunsch eine Bescheinigung zu erteilen, in der Titel, Name des Herstellers und Fabriknummer der Bildstreifen (Filme) sowie die Namen der Fest- [Festtage] usw. Tage, für welche die Zulassung erfolgt ist, anzugeben sind. Bilder, für die eine solche Bescheinigung beigebracht wird, können von andern Oberämtern, in deren Bezirk sie später an ähnlichen Fest- usw. Tagen vorgeführt werden sollen, ohne weiteres auf Grund der Bescheinigung zugelassen werden.

Den mit der Prüfung der Bilder beauftragten Beamten und Vertrauenspersonen ist auf Verlangen eine Vergütung zu gewähren, die nach der Dauer der Vorführung der Bilder unter Zugrundlegung von 2 M für die Stunde zu bemessen ist. Findet die Prüfung in einem auswärtigen Bezirksort statt, so hat der oberamtliche Beamte lediglich Anspruch auf die regulativmässigen Diäten und Reisekosten. Die Zahl der bei zuziehenden Vertrauenspersonen darf drei nicht überschreiten; für die Regel wird eine genügen, Anträgen der Unternehmer, von ihnen benannte Sachverständige auf ihre Kosten beizuziehen, ist stattzugeben. Die Vergütungen für die Prüfung der Bilder sind den Beamten und Vertrauenspersonen aus der oberamtlichen Kanzleikasse auszubezahlen, bei welcher der Unternehmer vorher einen angemessenen Betrag zu hinterlegen hat.

Der Ortspolizeibehörde steht es frei, zu der Prüfung der Bilder, deren Vornahme ihr unter Angabe von Zeit und Ort rechtzeitig mitzuteilen ist, einen Beamten auf ihre Kosten zu entsenden. Begründete Einwendungen der Ortspolizeibehörde gegen die Zulassung einzelner bei der oberamtlichen Prüfung nicht beanstandeten, Bilder sind möglichst zu berücksichtigen.

Die K. Stadtdirektion Stuttgart und die K. Oberämter Ulm, Heilbronn, Reutlingen, Cannstatt, Urach, Esslingen, Aalen, Tübingen und Tettnang, denen die Ermächtigung zur Gestattung von Ausnahmen von den Bestimmungen des § 8 Abs. 2 der K. Verordnung vom 27. Dezember 1871/27. Mai 1895 durch Erlasse vom 18. Januar 1899 Nr. 786, vom 8. und 17. Mai 1899 Nr. 7256 und 7584, vom 3. Mai 1900 Nr. 6939, vom 22. Juli und 4. November 1904 Nr. 8548 und 11627 übertragen worden ist, werden unter Bezugnahme auf die schon in den genannten Erlassen enthaltene Anordnung, dass ungeeignete Darstellungen auszuschliessen sind, angewiesen, die zur Veranstaltung von öffentlichen kinematographischen Vorstellungen nachgesuchte Befreiung von § 8 Abs. 2 der K. Verordnung im Fall der Gewährung gleichfalls an die in Ziffer II Abs. 1 bezeichnete Bedingung zu knüpfen. Kinematographenunternehmer, denen eine solche Befreiung für den auf 1. Dezember ds. Js. fallenden ersten Adventssonntag bei Einlauf dieses Erlasses etwa schon erteilt sein sollte, sind ungesäumt zu veranlassen, die Bilder, die sie an diesem Tag öffentlich vorführen wollen, nachträglich der vorgeschriebenen Prüfung zu unterziehen, es sei denn, dass das Oberamt die einzelnen zur Vorführung bestimmten Bilder schon ausdrücklich gutgeheissen hätte.

Sämtliche Bezirksstellen werden beauftragt, die in ihrem Bezirk ansässigen Kinematographenunternehmer einschliesslich der kinematographische Vorstellungen in Verbindung mit anderen Darbietungen veranstaltenden Schaustellungsunternehmer mit tunlichster Beschleunigung entsprechend zu verständigen und ihnen anheimzugeben, etwaige Befreiungsgesuche künftig so zeitig einzureichen, dass nach der Entscheidung über dieselben gegebenenfalls noch genügend Zeit für die Prüfung der Bilder übrig bleibt. Hierbei ist ausdrücklich zu bemerken, dass die Unterwerfung unter die Bedingung, dass nur oberamtlich geprüfte Bilder vorgeführt werden nicht etwa einen Anspruch auf Berücksichtigung des Befreiungsgesuchs begründet.

III. Wie schon aus den oben angeführten Erlassen an die K. Stadtdirektion und eine Anzahl Oberämter hervorgeht, hält das Ministerium die Erlaubnis zur Veranstaltung von öffentlichen Vorstellungen an den in §§ 6 und 8 der K. Verordnung bezeichneten Festtagen u. a. nur dann für gerechtfertigt, wenn, abgesehen von dem bei den Kinematographen meist nicht zutreffenden Fall, dass es sich um besonders kostspielige Unternehmungen handelt, ein gewisses Bedürfnis des Publikums vorliegt. In dieser Beziehung ist nun zu beachten, dass an einem Ort mehr Kinematographen vorhanden sein können, als den Verhältnissen des Gemeindebezirks entspricht, weil § 33 a der Gewerbeordnung, wonach die Erlaubnis zum Betrieb der dort genannten Schaustellungsunternehmen zu versagen ist, wenn der den Verhältnissen des Gemeindebezirks entsprechenden Anzahl von Personen die Erlaubnis bereits erteilt ist, auf die Kinematographen keine Anwendung findet. Solange diese Lücke der Gewerbeordnung nicht ergänzt ist, bietet sich immerhin die Möglichkeit, wenigstens an den in §§ 6 und 8 der K. Verordnung bezeichneten Festtagen die öffentlichen kinematographischen Vorstellungen auf den dem wirklichen Bedürfnis des Gemeindebezirks entsprechenden Umfang zu beschränken, indem, - etwa abwechslungsweise - für den einzelnen Festtag immer nur einer beschränkten Anzahl von Kinematographenunternehmen die Erlaubnis zur Veranstaltung von Vorstellungen erteilt wird:

Die K. Stadtdirektion Stuttgart und die K. Oberämter werden angewiesen, bei der Behandlung von Befreiungsgesuchen der Kinematographenunternehmer darauf Bedacht zu nehmen, dass für keinen Ort an den in §§ 6 und 8 der K. Verordnung bezeichneten Festtagen mehr kinematographische Vorstellungen gestattet werden, als dem vorhandenen Bedürfnis entspricht. Soweit die Ermächtigung zur Entscheidung der Befreiungsgesuche nicht den K. Oberämtern übertragen ist, ist die Bedürfnisfrage in dem Bericht, mit dem das Gesuch dem Ministerium des Innern vorgelegt wird, zu erörtern und gegebenenfalls Antrag auf Abweisung des Gesuchs zu stellen.

IV. Im Fall der willfährigen Bescheidung eines Befreiungsgesuchs hat das Oberamt nach Vollzug der Prüfung der Bilder dem Unternehmer ein Verzeichnis der zugelassenen Bilder unter Androhung von Ungehorsamstrafen und Nichtberücksichtigung künftiger Befreiungsgesuche für den Fall der Vorführung anderer als der genehmigten Bilder oder der Zuwiderhandlung gegen sonstige Befreiungsbedingungen zuzustellen und eine zweite Fertigung des Verzeichnisses der Ortspolizeibehörde mit dem Auftrag zu übergeben, die Einhaltung der Bedingungen, unter denen die Befreiung erteilt wurde, streng überwachen zu lassen und Zuwiderhandlungen dagegen zur Anzeige zu bringen. Wenn ein Unternehmer nach einmaliger Bestrafung wiederholt Bilder vorführt, die nicht zugelassen sind, so ist ihm in der Regel auf die Dauer eines Jahres nach der Erlassung des letzten Straferkenntnisses die nachgesuchte Befreiung von den Bestimmungen des § 8 Abs. 2 der K. Verordnung zu versagen; bei Befreiungsgesuchen, über die das Ministerium des Innern zu entscheiden hat, ist gegebenenfalls im Vorlagebericht unter Anschluss der Strafakten auf das Vorliegen dieser Voraussetzung für die Abweisung des Gesuchs aufmerksam zu machen.

Pintrek [korrekt ?]


Remark

Beilagen: 1 weitere Erlassausfertigung. [Leider nicht vh. ]

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