Full Document
Velhagen und Klasings Monatshefte, 1912, Jg. XXVI.2, Nr.8, S.613-617
[Velhagen und Klasings Monatshefte 1912, Jg.XXVI.2, Nr.8, ...]
Velhagen und Klasings Monatshefte 1912, Jg.XXVI.2, Nr.8, S.613-617
Klemperer, Victor: Das Lichtspiel
Es wird viel von dem Theaterüberfluss Berlins geschrieben; und damit setzt man sich in einen nur scheinbaren Widerspruch zu der gleichfalls häufigen Feststellung von der abnehmenden Theaterbegeisterung der Gegenwart: denn waren bei dem Publikum der wenigen früheren Schauspielhäuser heiliger Ernst und Kunstandacht das hervorstechende Merkmal, so füllt die zahlreicheren Theater des Heute eine Erholung und Zerstreuung suchende Menge, wobei es nichts verschlägt, ob dieses Erholen am Derbsten oder Feinsten, am rein Künstlerischen oder bloss Stofflichen gefunden wird. Der Überfluss an Theatern schrumpft in ein Nichts zusammen, wenn man ihn mit der Masse der in Berlin bestehenden Kinematographen vergleicht. Dem Berliner Wort "Kientopp" könnte man mit entschuldbarem Kalauer die Weiterbildung Kientopographie anhängen, da zu einer solchen überreichlicher Stoff vorhanden ist. In allen Stadtteilen Berlins, den vornehmsten wie den ärmsten, den stillen wie den lauten, begegnet man den immer lichtüberhäuften, fast immer farbenüberladenen Ankündigungen der neuen Erholungsstätten. Doch diese Bezeichnung, die dem modernen Theater so unbedenklich gegeben werden kann, ist hier vielleicht sehr viel weniger am Platze. Gewiss, der Wunsch nach Zerstreuung, nach Vergnügen lebt auch im Publikum der Kinematographen; aber jene Kunstandacht und jener heilige Ernst, den das Publikum hier teils mitbringt, teils ungewollt findet, dürften quantitativ wie qualitativ den Weihestimmungen des gegenwärtigen Theaters überlegen sein. Man nehme das für kein Paradoxon, es ist gesagt, wie es gemeint ist, und fusst auf der Beobachtung des Tatsächlichen. Man wende auch nicht etwa ein, in den Kientopp ströme das Volk, und das Volk sei eben leichter und entschiedener begeistert als der Gebildete; die Zeiten, wo nur das Volk im Kientopp sass, gehören so gut der Vergangenheit an, wie jene, wo nur das Volk in die Warenhäuser strömte, und im prunkvollen Mozartsaal des Berliner Westens verhält sich das soignierte Publikum nicht minder andächtig als das proletarische in irgendeiner Schaubude der östlichen Prinzenstrasse.
Hier wäre nun die Gelegenheit, es mit dem Wortscherz der Kientopographie ernst zu nehmen und dem Begriff kulturhistorische Fülle zu verleihen. Sogleich ergibt sich aber eine unübersteigliche Schwierigkeit; denn nur mit einigen grossen Lichtspieltheatern kann man als mit feststehenden Grössen rechnen, während die Unzahl der kleinen bald hier, bald dort auftaucht und wieder verschwindet. Eine Beweglichkeit steckt darin, nicht der des einstigen Thespiskarrens gleichend, sondern der des Automobils verwandt. Buchstäblich verwandt; denn auch beim Kinematographen handelt es sich ja um den Ersatz des Natürlichen durch das Maschinelle. Und weil man die notwendige Maschinerie wohl in jedem langgestreckten Laden und Schanklokal unterbringen kann, und weil kein Bühnenraum notwendig ist und keine Kulisse und kein Schauspieler, so erklärt eben das Maschinelle der Einrichtung, die aus höchstem technischen Raffinement hervorgegangene höchste Simplizität der jeweiligen Aufführung, die Beweglichkeit der Anlage.
Und weiter erscheint mir eigentlich in kulturhistorischer Hinsicht solche kinematographische Ortskunde, sofern man vom Publikum absieht, das den einzelnen Stadtteilen entspricht, durch gleiche Andacht aber überall ein gleiches wird, beinahe überflüssig: denn im Grunde genommen trifft man überall wie auf die gleiche Andacht des Publikums auf die Gleichheit der Sache. Was wechselt, sind Äusserlichkeiten. Wo auf ein schlichteres Publikum gerechnet wird, tragen die Institute volltönende fremdsprachliche Namen wie Vitaskop, Bioskop, Biophon-Theater; der Westen (auch in der Farbengebung seines Firmenschildes schlichter) sagt Lichtspiele, das wissenschaftliche Urania-Theater spricht von Bewegungsbildern. Diese zweite Verdeutschung wäre nur dann am Platz, wenn man sich die Identität zwischen Bewegung und Leben immer gegenwärtig hielte, denn es handelt sich ja beim Kinematographen um mehr als um die blosse Darstellung von Bewegungen, es handelt sich um das Fliessende des Lebens schlechthin. Eine noch zu erörternde höhere Berechtigung möchte die anmutige Bezeichnung Lichtspiel für sich haben, doch liegt vielleicht das innerlichste Recht bei den Titelkombinationen aus antikem Wortschatz, denn indem sie allen modernen Sprachen gemeinsam sind, deuten sie aus das Gemeinsame, auf das Internationale der Sache. Gewiss besteht ein Austausch auch zwischen den Theatern der einzelnen Länder; Schauspieler, bisweilen auch ganze Schauspieltruppen geben Gastspiele. Aber wieviel entschiedener, wieviel umfassender ist gleich seiner Beweglichkeit auch die Internationalität des Films. Das Gastspiel des Schauspielers ist immer noch die Besonderheit, er ist im fremden Lande, ja schon in der nächsten Stadt eben nur zu Gast; der Film macht keine Gastreisen, ist überall zu Hause. Wie charakteristisch hierfür ist die ständige Bemerkung auf den Zetteln der Mozart-Lichtspiele, man bitte "um Nachsicht für Übersetzungsfehler in den Titeln ausländischer Films
Der Kinematograph spielt in weitaus grösserer Gleichheit vor dem Publikum der verschiedenen Städte und Länder; er kennt auch wie gesagt innerhalb derselben Stadt keine wesentlichen Unterschiede nach dem Orte, den er besetzt hält. Freilich die Eleganz des Zuschauerraumes wechselt von der jämmerlichsten Schenke bis zum üppigsten Saal, aber die Einfachheit der Form, das schmale Rechteck bleibt bestehen. Und im Norden findet man wohl unmittelbar neben den Sitzbänken einen schmierigen Schanktisch, während der Westen den Kaffeehausbetrieb in eigene Foyerräume verlegt; aber die Zwanglosigkeit des Anbietens und Nehmens von Erfrischungen während des Spiels (ein Bierglasbehälter vor jedem Sitz scheint Gesetz) ist überall dieselbe. In den billigeren Instituten wird während der Szene ein Klavier bearbeitet, oder ein Orchestrion grölt, oder es macht sich an rührenden Stellen ein Harmonium bemerkbar, im Westen ist eine tüchtige Kapelle eifrig an der Arbeit. Aber Musik muss eben dort wie hier vorhanden sein, wobei es gar nicht so sehr darauf ankommt, dass die Musik genau dem Stimmungsgehalt des Dargestellten entspreche, sondern einzig und allein auf die Musik an sich, auf die erträgliche Tonmasse; denn ohne sie würde man den stumm bewegten Bildern gegenüber das Gefühl haben, sich in einer Gesellschaft von Taubstummen zu befinden, und wie sehr sich dies auf die Dauer als Bedrücklichkeit herausstellt, kann man immer wieder an den wenigen Bildern erproben, die ohne musikalische Begleitung abrollen. War aber bisher von der nur ungefähren Gleichheit der Nebenumstände die Rede, so ist in der Hauptsache selber die Gleichheit eine vollkommene. "Die Räuber" auf der Bühne des Deutschen Theaters und auf irgendeiner Vorstadtszene gebärden sich sehr verschieden; zum Film geworden, führen sie im proletarischsten wie im feinsten Kinematographentheater genau das gleiche Leben. Und man sage ja nicht, der Kinematograph spiele zwar dieselbe Szene überall gleich, aber er spiele eben nicht überall die gleiche Szene, sondern sein Programm wechsele vom Derben zum Feinen je nach dem Kostbegehren des Publikums. Ich habe in allen Stadtteilen die gleiche Kostmischung vorgefunden, und das "Volk" hat dem Ernsten grosse Andacht entgegengebracht und die "Gebildeten" haben laute Freude über Hanswurstiaden geäussert, für die sie sich als Zuschauer ausserhalb des Kientopps zu gut gedünkt hätten. So ist der Kinematograph, wenn anders das Nivellierende das Demokratische ist, ebensosehr das demokratische Institut wie das internationalste. Demokratisch nicht nur in der Idee wie etwa das Schillertheater, dem die Körperlichkeit doppelt fehlt, weil es ja mit seinen beschränkten Mitteln die einzelnen Stücke doch nicht so verkörpern kann wie eine reichere Bühne, und weil es schliesslich doch nur vor wenigen spielt und nicht vor der Masse des Volkes, sondern, demokratisch durch und durch, dem Volke die gleiche Leistung bietend wie dem Gebildeten und der ganzen wimmelnden Volksmasse zugänglich.
Nun fragt es sich, warum denn das ganze Volk nach diesem Genusse greift, den doch die wenigsten bisher als einen Kunstgenuss gelten lassen, den fast alle ein Surrogat natürlicherer Erholungen und Vergnügungen nennen. Wirklich nur deshalb, weil der Kientopp so billig ist? Aber im Mozartsaal kann man doch Preise zahlen (und bezahlt sie auch), für die sich ein guter Platz in jedem Theater erstehen lässt. Und das Volk zahlt im Zirkus und auf den Rennplätzen höhere Eintrittspreise, und den Gerichtsverhandlungen darf es ohne Eintrittspreis beiwohnen, und ein Platz im Schmierentheater kostet ungefähr das gleiche wie ein Platz im Kientopp. All diese Veranstaltungen in ihrem natürlichen Verlauf haben den und jenen Liebhaber - in den Kientopp, der die Gesamtheit solcher Veranstaltungen nachbildet, strömen sie alle.
Eben deshalb, weil es eine solche Gesamtheit biete, wegen seiner unvergleichlichen Buntheit und Fülle also, übe das Kinotheater auch seine unvergleichliche Anziehungskraft, argumentiert man zu zweit und trifft damit gewiss das Rechte, ohne freilich eine erschöpfende Erklärung zu geben, denn nach dem Billigen greift der Unbemittelte, nach dem Vielen und Bunten der kindlich Rohe, und es ist doch betont worden, dass auch die Wohlhabenden und Kultivierten zum Kinopublikum zählen. Immerhin, die ungeheure Mannigfaltigkeit des an einem Abend Gebotenen, die rasche Folge wechselnder Bilder, die durch äusserste Konzentration des gehäuften Stoffes erreichte äusserste Zerstreuung des Publikums muss gerade in der Gegenwart willkommenste Reizung sein. Man geht ins Theater, um sich zu zerstreuen; das Varièté tut dem Theater Abbruch, weil es stärkere Zerstreuungsmöglichkeiten bietet, und die Zerstreuungsmöglichkeit des Kientopps verhält sich zu der des Variétés wiederum wie Maschinenkraft zu animalischer, wie das beinahe Grenzenlose also zu dem knapp und unübersteiglich Begrenzten.
Ich habe die Zeit des pedantisch um acht Uhr beginnenden Theaters nicht innehalten können und will zwei Abendstunden im Kino verbringen. Ich gerate mitten in die Vorstellung und bin doch - ursprüngliche und übertragene Bedeutung fallen hier zusammen - sofort im Bilde. Chinesische Häuser bauen sich an einem breiten, starkströmenden Flusse auf, seltsame Barken gleiten vorbei, legen an, landen Menschen und Waren. Zwei Jungen neben mir, in dem typischen Konfirmandenanzug der kleinen Leute, debattieren ernstlich darüber, ob die im Programm angekündigten "Bilder vom Jangtsekiang" chinesische oder indische seien. Ehe der pädagogische Unterricht sich in seinem Ernst bedrücklich fühlbar macht, folgt eine lustige Clown- [Clownaktion] und Akrobatenaktion aus dem Zirkus. Von hier aus geht es aus den Sportplatz: das Reiterrudel jagt vorüber, die aufgeregten Mienen und Bewegungen der Zuschauer stellen sich dar, der Sieger wird beglückwünscht. (Bei alledem ist der Zuschauer bereits zu einem vollkommeneren Beobachten gezwungen worden, als ihm auf dem Rennplatz selber eignen dürfte; dort sieht er wahrscheinlich nur die Reiter, hier auch den Aspekt des Publikums, und so drängt ihm das Lichtspiel ein grösseres Lebensstück auf, als ihm das Leben selber zuführen würde.) Zoologische Bilder erfreuen nicht weniger als die geographischen; die Vorführung eines Gleitbootes in blitzschneller Fahrt, die Analyse seiner Maschinerie erregt atemloses Interesse. Womit denn der Kinematograph dort angelangt ist, wovon er seinen Ausgangspunkt nahm, ehe er an die Eroberung des Volkes (von unten nach oben) ging: beim Wissenschaftlichen. Doch ist all dieses Wissenschaftliche und Pädagogische, wie es etwa in den prachtvollen Zellen- [Zellenvorführungen] und Bakterienvorführungen der Urania den eigentlichen Zweck des Kinematographen bildet, der gelegentlichen Oberflächlichkeit und Geschminktheit "populärer Belehrung" mit dem unzerstörbaren Ernst des Tatsächlichen ein heilsames Gegengift bietend, wie es ihn an Universitäten und klinischen Anstalten zu immer grösserer Bedeutung erhebt - im Kientopp als dem Theatersurrogat, ist es nur Füllsel; und Füllsel trotz ihrer Reichhaltigkeit sind auch die regelmässig wiederkehrenden Bilder zur Tagesgeschichte, die zum Leben erweckten Zeitungsblätter mit ihren Prozessionen, Paraden, Truppeneinschiffungen, Bauten, Gottesdiensten, Schneiderkünsten, Gelehrten- [Gelehrtenportraits], Künstler- [Künstlerportraits], Hochstapler- [Hochstaplerportraits], Polizeihundeporträts. Das Surrogat muss dem zu Ersetzenden ähnlich sein, und soll es wirklich ersetzen, d. h. siegreich verdrängen, so ist es mit der grösseren Billigkeit allein nicht getan - die Margarine verdrängt die Butter nicht -, und mit der grösseren Heilsamkeit auch nicht - der "koffeinfreie" schlägt den Kaffee nicht aus dem Felde -, sondern das Surrogat muss auf dem gleichen Gebiet wie das ursprünglich vorhandene Ding an tatsächlichen Vorzügen reicher sein. Das Lichtspiel tritt in Wettbewerb mit dem Theater; so muss es vor allem Theater sein. Die Kinematographenbühne beginnt, die eigentliche Bühne zu verdrängen; so muss sie ihr an tatsächlichen und nicht nur äusserlichen Vorzügen überlegen sein. Erst die Auffindung dieser Vorzüge vermag den Sieg des Kinematographen restlos zu erklären.
In einem kleinen und besonders primitiven Kientopp des Ostens bot man dem Publikum, das der denkbar niedrigsten Schicht angehörte, als offensichtlich besondere Attraktion einen Conferencier. Der Mann in schäbiger schwarzer Eleganz, das gedunsene Gesicht wohlrasiert, einen Kneifer vor den nicht unintelligenten Augen, begleitete von seinem der Leinwand entfernten Platz am Eingang der Schenke aus die einzelnen Bilder mit einem Redestrom, der bald pathetisch, bald sentimental, bald derb lustig klang. "Und nun sinkt die unglückselige Tochter dem alten Vater in die Arme! - Du hast mir mein Weib geraubt, einer von uns muss aus der Welt! - - Na, Karliniken, nu wollen wir mal erst die Lampe ausmachen! Und nu können wir woll das junge Ehepaar allein lassen - nich wahr, meine Herrschaften?" Aber während der verkommene Literat so unablässig sprach, tönte mit gleicher Ausdauer und stärkerer Lungenkraft das Orchestrion; die Reden des Mannes schienen nur ein Geräusch mehr neben dem musikalischen, dienten auch nur zur Übertäubung der Pantomimenstille, fanden so gar keine Beachtung, dass ihr unvermitteltes Ausbleiben bei einigen Szenen ganz offenbar niemandem auffiel. Der Conferencier war so überflüssig wie ein Erwachsener, der das mit Entdeckungen in seinem Bilderbuch beschäftigte Kind durch seine Erklärungen mehr ablenkt als bereichert. Solch einem Erklärer bin ich denn auch auf meinen Streifzügen durch das Kinotheater nur dieses eine Mal begegnet. Der Kinematograph braucht das Wort nur als leiseste Stütze des Bildes, meist ist es mit der gedruckten Überschrift der einzelnen Szene getan, wie etwa "Im Nachtasyl", "Die Sühne", "Der Tod versöhnt alle", "Eine Wette", "Hilfe in der Not" usw. usw. Ins Gefüge des Dramas selber dringen immer nur kurze Briefe, Geldanweisungen, Geburts- [Geburtsanzeigen] und Todesanzeigen, Testamente, ein Rezept, ein militärischer Befehl. Im übrigen herrscht immerfort die pantomimische Handlung, aber eine ungleich verständlichere als die der Bühnenpantomime, weil eine ungleich reichhaltigere; denn hier bewährt sich die Maschinenkunst des Kinematographen, die alle Zirkusmöglichkeiten ins Spiel bringt. Ich sehe das Automobil des Arztes heranjagen, ich sehe den Kranken auf dem Operationstisch, und könnte ich diese beiden Dinge getrennt allenfalls auch noch auf der wirklichen Bühne sehen, so begleite ich im Kino den Arzt Schritt für Schritt von dem Augenblick, da ihm der Diener den Wagenschlag öffnet, durchs Haus über Treppen und Korridore bis zur Sekunde, wo er das Messer ansetzt. Ich sehe den Reiter beim Sprung über die Hürde stürzen, sehe die Hunde hinterm Wild herjagen und den Fluss durchschwimmen, ich kann es verfolgen, wie die streikenden Arbeiter vor dem Maschinenhaus sich ansammeln, wie sie kämpfend in die einzelnen Hallen sich ergiessen, wie sie ihr Vernichtungswerk ausführen.
Es liegt nun der Einwand aus der Hand, dies alles sei kein Vorzug vor dem Theater, sondern das gerade Gegenteil des Theaters, der Zirkus nämlich. Insofern die bunte Stofflichkeit, das verwegen Körperliche in den Zirkus gehöre, während es die Sache des Theaters sei ... ja, was ist denn Sache des Theaters? Drama heisst Handlung und nichts anderes, und die Sache des Theaters ist es also, durch eine unmittelbare Handlung zu erschüttern, das Ich aus der Enge seines alltäglichen Gefühls herauszuführen in die Freiheit der Teilnahme an anderen Menschenschicksalen. Alles, was dem Rollen der Handlung entgegensteht, was Gefühlszustände erklärt, alles Gedankliche, jeder Sprachschmuck ist im letzten Grunde undramatisch und bühnenunwirksam. Das erklärt den traurig zerrissenen Zustand des modernen Bühnenlebens. Man unterscheidet heute ebenso notwendiger- [notwendigerweise] wie unsinnigerweise zwischen dem literarischen und dem Volksstück. Im Volke ist der Sinn für das eigentliche Drama und nur für dieses durchaus lebendig, das Volk sucht auf der Bühne den Ablauf starker Ereignisse, will von ihnen gerüttelt, zum Lachen und Weinen gezwungen werden. Der Gebildete hingegen steht dem gewaltsamen äusseren Geschehnis längst skeptisch gegenüber. Ihm kommt es auf die Ereignisse der Seele an; wie ihn das Seelische in Lyrik und Epik beinahe ausschliesslich fesselt, soll es auch auf der Bühne herrschen. Es soll, aber es kann dort kaum regieren, ohne das eigentlich Dramatische ins Hintertreffen zu drängen. Gerade die besten modernen Stücke offenbaren ihre eigentliche Schönheit dem Leser und nicht dem Zuschauer. Das literarische Publikum empfängt von der Bühne herab Surrogate; an der Dichtung mag es sich zu Hause freuen, im Theater ist sie zur Bedeutung eines Kanevas herabgesunken, auf der als Stickerei und somit als Wesentlichstes erscheint, was doch eigentlich das Untergelegte, das Dienende sein sollte: die Kunst des Schauspielers und des Regisseurs. Wie charakteristisch ist es, dass man heute das System einer "Theaterkunst" baut, worin der Dichter nur ein Mitarbeiter unter mehreren ist und nicht der unumschränkte Herr seiner szenischen Diener. Die Theaterkunst bereichert die Reihe der Künste um eine neue, zugleich aber verengt sie das Gebiet der Dichtungsarten: wer der Moderne als Dichter etwas zu sagen hat, tut es am sichersten durch Lyrik und Epik; als Dramatiker läuft er die doppelte Gefahr, mit seinem Seelischen überhaupt zu verhallen und in dem, was an sich aus der Bühne hörbarer wäre, von den Selbstherrlichkeiten des Schauspielers und der Regie übertönt zu werden. Aber auch der Volksdichter ist in peinlicher Lage; er schämt sich einigermassen seiner Kunst, die als roh, als Unkunst gilt, und um sie zu verschönern, greift auch er, und sei es mit plumpesten Fingern, ins Seelengebiet hinüber, verfälscht also seine dramatische Kunst. Er könnte freilich zu seiner Verteidigung sagen, das Drama in seiner ausschliesslichen Bedeutung habe niemals existiert, aus der gottesdienstlichen Handlung hervorgegangen, habe es von vornherein in seinen Chören lyrische und gedankliche Bestandteile in reichlicher Menge enthalten. Dazu wäre dann zu sagen, dass die kinematographische Darstellung somit dem reinen Begriff des Dramas näher komme als alle vorher gewesene Dramatik, da sie buchstäblich die Erfüllung des dramatischen Ideals bedeute. Dem sei wie immer, so ist es doch ganz gewiss, dass die Kinoausführung ein intensiveres, ein sozusagen ehrlicheres Volksstück bietet, als irgendeine natürliche Bühne heute zu bieten vermag. Handlung presst sich an Handlung, da ist keine Fuge, in der sich jene Todeskeime des Dramas festsetzen könnten. Und doch liegt kein entseeltes Ganze, kein Zirkuswerk vor. Sondern das Volk ist in jedem Augenblick gezwungen zugleich und befähigt, den bewegten Körpern, die es sieht, selber die Seelen hinzuzufinden, einfacher gesagt: sich den Bildertext zu schreiben. Ein Kind läuft über den Fahrdamm, ein heranjagendes Auto soll gebremst werden, erfasst aber dennoch den Knaben, der Verletzte wird zu seiner Mutter gebracht ... all diese Vorgänge und tausend andere gleiten, oft kunstvoll verkettet, vorüber, und alle bieten sie Anlass, die Empfindungen und Gedanken der im Spiel Befindlichen auszusuchen, wobei dann jeder nach Massgabe seiner eigenen Tiefe des Fühlens und Denkens solche Beseelung vornimmt. Und dieses ständige Beseelenmüssen ist es nun offenbar, was den Ernst und die Andacht des Publikums hervorbringt, indem es aus Zuschauern Mitschaffende macht, indem es ein wirkliches Mitleben erzwingt. Und dies ist auch der Punkt, der die Filmbühne zur Volksbühne in der weitesten und einzig edlen Wortbedeutung macht, derart, dass auch die Schicht der Gebildeten vor dieser Bühne zum Volk gehört. Denn auch dem Gebildeten ist es ja notwendig, sich den Seelentext der Bilderreihe zu schreiben; niemand hindert ihn, den Text des gleichen Bildes tiefer und eigenartiger zu verfassen, als ihn vielleicht ein roherer Nachbar herstellt - aber verfassen muss er ihn, und gerade vor diesem "Muss
strömt auch hier die heilige Andacht aus, weil dieses Muss eben das Mitschaffen und Mitleben in sich schliesst. Das Mitschaffen und Mitleben, das vom literarischen Stück der besten modernen Bühnen teils nicht mehr verlangt werden kann, teils nicht mehr verlangt wird. Die teilweise Unmöglichkeit dieser Forderung beruht auf dem schon erwähnten Umstand, dass jene feinsten Seelenregungen, um deren Ausdruck es dem modernen Dichter zu tun ist, im Lärmen und Hasten der Bühne versinken müssen (denn ein völliger Verzicht auf Hast und Lärm käme aus eine völlige Abtötung des dramatischen Nervs heraus). Das teilweise Aufgeben der Forderung aber liegt darin, dass die mitschaffende Phantasie des Zuschauers keinen Spielraum mehr hat.
Findet der Gebildete somit an den Volksstücken des Kinematographen einen innigeren Genuss als an den literarischen Dichtungen der modernen Bühne, so ist es doch nicht nur die kindliche Freude, die man so gern mit jeder Art des "Zurück zur Natur" verknüpft glaubt. (Um solch ein "Zurück zur Natur" handelt es sich ja hier wirklich, wenn auch der Rückweg mit allem Raffinement des Maschinenwesens gebahnt ist.) Er dürfte vielmehr als Erwachsener noch eine besondere verfeinerte Freude empfinden, eine Stimmungsfreude, wo die Ungebildeten die einzelnen Szenen als Wirklichkeiten schlechthin geniessen. Denn während der naive Zuschauer mit unbefangener Illusionskraft die bewegten Bilder als etwas wahrhaft Körperliches nimmt, dem er die Seele abfragt, kann der bewusstere Betrachter keinen Augenblick das Gefühl dafür verlieren, dass er es nicht mit den realen Dingen, dass er es vielmehr mit ihren Schattenbildern zu tun hat. Und insofern reiht sich die Filmdarbietung eng an die uralten Schattenspiele, von denen sie sich wiederum durch die Plastik und ungeheure Bewegungsmöglichkeit ihrer Figuren unterscheidet. Dieser Unterschied bewirkt es, dass das Kinotheater eine neue, eben eine aus sprachloser, unablässiger Handlung gebaute Dramatik zu geben vermag, während das Schattenspiel auf gesprochene Texte angewiesen und also doch ein Notbehelf des eigentlichen Theaters war; jene Verwandtschaft aber überträgt alle Sonderreize des alten Schattenspiels restlos auf die Filmdarstellung. Nun ist es uralte, ewig wiederholte Weisheit, das Schattenspiel habe den Indern und manchen orientalischen Völkern nach ihnen deshalb eine besondere Freude bereitet, weil sie in der schattenartigen Darstellung der Menschen und Dinge ein Sinnbild für die Nichtigkeit der irdischen Erscheinungswelt gesehen hätten. Dieser Gedanke durchzieht, immer aufs neue belegt, die ganze "Geschichte des Schattentheaters" von Dr. Georg Jacob, die das Schattenspiel auf seinen Wanderungen von Indien nach Ceylon, Java und Siam, nach China und später zur mohammedanischen Welt begleitet. Und es ist der gleiche, nur noch entschiedener fatalistisch gefärbte Gedanke, wenn vor einem arabischen Schattenspiel, den "Liebenden von Amasia" (von Konsul Wetzstein, Brockhaus, Leipzig) als Motto steht:
Ich seh' im Schattenspiele tiefen Sinn, Es ist ein Bild des Lebens für den Denker; Gestalten ziehn vorüber, schwinden hin, Dann endet alles, übrig bleibt der Lenker.
Nun glaube aber, wer will, dass solch eine pessimistische Philosophie die Masse des teilnahmvollen Publikums vor der Leinwand zu irgendeiner Zeit und in irgendeinem Lande in Bann gehalten und nun gar das freudige Interesse am Schattenspiel erhöht habe. Nein, immer und überall kann das Schattenspiel nur die Freude am Leben vergrössert haben. Denn hier sahen die Menschen die Dinge der Welt vorübergleiten als Objekte, denen die Tücke des Objekts fehlte, als irdische Dinge ohne Erdenschwere, in einer beglückenden Reinheit und losgelösten Selbständigkeit. Und diesen Vorzug, gleichsam die Idee der Dinge zu bringen statt der Plumpheit der Dinge selber, teilt das moderne Lichtspiel durchaus mit dem alten Schattenspiel. Jetzt erweist es sich, ein wie glücklicher Sprachgriff die Bezeichnung Lichtspiel ist; denn wirklich, hier handelt es sich um ein freudiges Spielen mit den Erscheinungen des Lebens: die anmutige Unerschöpflichkeit seiner Formen gleitet vorüber, all seine Beschwerde bleibt zurück. Die Masse der naiven Zuschauer hat dafür kaum ein Gefühl; sie nimmt das Lichtspiel so sehr als Wirklichkeit hin, dass ihr jede Unterstreichung dieser Wirklichkeit nur lieb ist. So finden die schreckensvollen Kombinationen, in denen ein Sänger auf der Leinwand agiert, während ein versteckter Phonograph die dazugehörige Arie ertönen lässt, zumeist lebhaften Beifall. Von solchen peinvoll unnatürlichen Nachahmungen der Natur wird sich der Gebildete abgestossen fühlen. Dafür strömt ihm dann um so bewussterer Genuss aus dem eigentlichen Lichtspiel als einer besonderen Kunstgattung, in der ihn der einfachste Vorgang, wie das Schreiten eines Menschen, der Flug eines Vogels, ja die Hantierung des schlichtesten Instrumentes, einer Schere etwa, die ein Stück Tuch durchschneidet, aufs freundlichste anspricht - eben als befreites, unirdisch gewordenes Leben.

Please enable Javascript
This site only works with Javascript enabled. Please check your browser settings and then reload this page. Thank you.