Full Document
Velhagen und Klasings Monatshefte, 1912, Jg. XVI. 2, Nr.8, S.618-627
[Velhagen und Klasings Monatshefte 1912, Jg. XVI.2, Nr.8, ...]
Velhagen und Klasings Monatshefte 1912, Jg. XVI.2, Nr.8, S.618-627
Molo, Walter von: Im Kino
Ich fuhr mit der gnädigen Frau im "Gummiradler" zum Kino. Ein verlorenes Vielliebchen war schuld daran. Sie sass neben mir, mit dem pikantesten Glockenhütchen, das aufzutreiben gewesen - eine fleischgewordene Gibsonzeichnung - und sah durchs Fenster. Mit einem Male war sie ganz sprühendes Wort: "So einen Kinematographen möchte ich eigentlich sehen!
Sie zeigt gruselig erregt mit dem weissen schmalen Glacé durch die schütternde Wagenscheibe. Wir fahren langsam an einem Kino letzter Güte vorbei. Zum Schneiden dick ist die Luft, die durch die halbverhängten Fenster scheint, ein Klavier kläfft gequält durch die unablässig gehenden Türen, durch die sich Arbeiter und Schuljungen Stimmung holen. Grelle Dreifarben-Plakate kleben am Eingang: Zehn erstklassige Schlager bei niederen Preisen! Sensationell! Kunstfilm! "Auf dem Altare des Mitleids! Grosses, zu Herzen gehendes Drama aus dem montenegrinischen Bauernaufstand. Aus Mitleid zur Freundin das eigene Leben geopfert! Ein menschliches, tieftrauriges Bild!" - "Revolution in Portugal!" - "Macht der Liebe!
... Wir sind vorbei.
"Das hätt' ich gern gesehen", sagt sie fratzenhaft und spielt die Beleidigte, "das wäre gewiss interessant!
"Ich will Ihnen, Gnädigste, das Beste zeigen." Der Handkuss wird gnädig quittiert, die Querfalte auf der Stirn der grossen Jour-Organisatorin schwindet jedoch erst, als ich sage: "Sie sässen unter schlecht gewaschenen Menschen ohne Manieren.
Ein verzeihender Blick antwortet. Sie haben recht
"Warum heisst's eigentlich Kino?
"Kino? Das ist so eine Umbildung wie Auto, Taxi - Sinn hat's keinen, aber -
"... Hübsch ist's! Ich geh' ins Kino! Wie nett das klingt! - Da ist schon wieder eins! Schauen Sie! Schauen Sie!
Wir lesen ein Plakat: "Cäsars Glück und Ende. Grosses historisches Drama aus dem Wüstlingsleben des geschichtlich bekannten Cäsars des Grausamen - und dessen schreckliches Ende" - und sind vorbei.
"Dass es so viele Kinos gibt, hab' ich gar nicht gewusst", sagt die kleine Frau und liebkost ihren Muff. "Rentiert sich denn das?" Ich krame meine Wissenschaft nachlässig aus: "In England sind 8 000 Kinos, in den Vereinigten Staaten 12 000 - auf der Erde 70 000. Es ist das Theater des Volkes geworden! Ade Volksstück ...
"Ihr Drama ist noch nicht aufgeführt?" meint sie liebenswürdig frech.
Meine heroische Handbewegung legt diese nebensächliche Angelegenheit ad acta. "In den Vereinigten Staaten besuchen täglich vier Millionen das Kino - also, der Zahl nach, in fünfundzwanzig Tagen die ganze Bevölkerung der Vereinigten Staaten.
"Steht das im Lexikon?
"Ich hab 's nach besten Quellen festgestellt! - Wir sind da!
Wir steigen aus; der Windfang spielt. Der Riesensaal, der sonst nur Damen mit Haararchitektonik sieht, mit fliessenden Gewändern und weissen Schultern, der grösste Tanzsaal Wiens, ist ein Kino, "Lichtspiele
heisst es hier. Die Garderoben sind übervoll, bei den Kassen klimpert das Geld. "Die Damen werden höflichst gebeten, die Hüte abzunehmen." Der Garderobier zeigt auf die Riesenpapptafel. Seufzend tut 's Frau Lotte und sticht die Riesennadeln durch das grüne Glockengebäude, langsam, als finde sie, es sei unter solchen Umständen für ihren Hut das beste, von ihrer Hand zu sterben. Die Stufen hinan in wohliger Hast, verdunkelnde Türen klappen lautlos auf und zu, und wir sind im Finstern. "Na, das ist gut", sagt sie. "Bitte die Karten", sagt ein Mann, der eine Blendlaterne vor der Brust trägt. Das Auge gewöhnt sich an die Lichtleere, es unterscheidet im tiefen Halbdunkel des Riesensaals Kopf an Kopf - sie sind alle der grossen Leinwandtafel zugewandt. "Da" - wildes gurgelndes Wasser schiesst um düstere schwankende Baumwipfel, ein Kanoe jagt in den Stromschnellen des exotischen Flusses, es fährt auf einen gischtumwirbelten Felsen, es hängt fest, nackte braune Eingeborene springen ins rauschende Wasser - das Rauschen kommt vom zischenden Projektionsapparat -, sie machen das Boot flott, es beginnt zu treiben, immer schneller und schneller, die Wirbel drehen es, die nackten Kerle springen hinein und ergreifen die Ruder, die schlanken Beine glänzen vor Nässe. Heidi! Weg sind sie! Das Fabrikzeichen einer Reklame flammt farbig auf der Riesenleinwand auf. Ich fühle: wir sitzen, vom Mann mit dem elektrischleuchtenden Herzen mystisch hierhergebracht. Es wird licht im Saal.
"Was war das?" fragt verdutzt die kleine Frau.
"Laos in Indien - Naturaufnahme", lese ich aus dem Programm.
"Hübsch ist das.
"Ja", sage ich und weiss, dass ich in diesem Augenblicke so aussehe, als hätten nicht die Brüder Lumière in Lyon Anno 1895 den Wunder-Apparat geschaffen, sondern ich: Walter von Molo. Der Mensch ist einmal so. - "Passen Sie nur auf; Sie werden noch ganz andere Dinge zu sehen bekommen.
Sie dreht den Kopf und wendet die schönen Schultern: sie mustert den schwarzen Projektionsapparat, der drohend auf der rückwärtigen Schmalseite des Sophiensaales postiert ist, dort, wo sonst die Musikkapellen die süssen Walzer fabrizieren, die der Jugend in die tanzunlustigen Ästhetenbeine fahren, dass sie wider Willen im Strauss- [Strauss-Walzertanzpoem] und Lanner-Walzertanzpoem schleifen und drehen.
Der Marsch der Musikkapelle reisst ab, Dunkelheit fällt wie ein schwarzes Tuch über die Menge.
"Kaiser Franz Joseph auf der Gemsjagd.
"Ach, das wird nett: ich seh' den alten Herrn gern", sagt die kleine Frau despektierlich.
Vor dem Jagdschlosse in Ischl fahren die Equipagen vor, die Leibjäger bringen das Jagdgerät, die Gäste erscheinen und dann Er, der unverwüstliche Weidmann und Glücksucher für seine vielen Völker, neben ihm ein eisgrauer Riese: Luitpold von Bayern. Die Herren sind in Lederhosen, sie nehmen Platz, die Räder rollen über die Eisenbahnschienen, alles grüsst ehrerbietig, die grossstädtischen Saisondirndlen knicksen, der Kaiser dankt, er hebt immer wieder und wieder mechanisch den verwitterten Steirerhut vom Herrscherhaupt. Vor dem Bahnhofsgebäude biegen die Equipagen ein, Begrüssung, Hutschwung. Der Kaiser brennt darauf, zum Schuss zu kommen. Er geht schnell über den Perron, er dankt dem Stationsvorstand, der sich meldet: leicht, ohne fremde Hilfe, ersteigt der Achtzigjährige das Coupé, die Lokomotive zieht an, rauchwirbelnd verschwindet der Zug. - Hoch oben im Wald warten die Jäger und Treiber. Markige Waldriesen. Sie werden unruhig und zeigen mit den Fingern, sie reissen die Hüte von den Köpfen: Die Equipage der Monarchen rollt vor, das Pferd steht bereit, der Kaiser hat die Regierungssorgen von sich getan, er spricht mit dem und jenem. Die Jäger stossen sich gegenseitig an, die liebende Hochachtung ist in aller Mienen. Der Kaiser besteigt das Tier, die Treiber eilen, die langen Bergstöcke schwingend, voran. - Eine latschenübersäte Geröllhalde liegt vor dem Ansitz. Es beginnt im Kar zu wimmeln, das sind die Gemsen. Der Kaiser sitzt regungslos - nur das Bild zuckt hier und da ein wenig und fleckt, als koche es unter der projizierten Schichte: es flimmert - auf einmal reisst er den Stutzen hoch, das Ohr hört den Schuss, ohne dass er fällt. Das Publikum jubelt lautlos über den kapitalen Treffer seines Kaisers; eine wellenförmige Bewegung geht durch den Saal. Die Gemse kugelt. Der Bruch wird dem Kaiser präsentiert, er nimmt ihn lächelnd entgegen. Schluss der Jagd! Die Jäger steigen zu Tal, die Treiber schleppen das Wild. Der Kaiser besichtigt die Strecke, eilig, nervös, ungeduldig, es ist, als hätten ihn die Regierungssorgen schon wieder eingefangen: die deutsch-tschechische Verständigung, der ungarische Ausgleich! Das Bild des Kaisers erscheint allein - die Musik intoniert die Volkshymne; das Publikum steht und singt mit, auch meine kleine, kokette Nachbarin, denn sie ist eine Patriotin, allerdings mit der Lokalfärbung: Wienerin, das ist eine Ortsgruppe des Reichspatriotismus. Oh, die Wienerin versteht ebensoviel von der Politik, wie alle anderen Frauen auf der Welt. Wieviel, das sag' ich nicht.
Als sie wieder sitzt, lächelt sie mit dem süssen Zähnchenwerk und netzt die Lippen. "Wirklich hübsch ist das! - Wie nimmt man das Zeugs denn auf?
"Wie photographiert wird, wissen Sie?
"Natürlich!
"Eine Laterna magica kennen Sie auch?
"Das ist doch das Zeugs, wo man Bilder einsteckt, - und ein Licht wirft sie vergrössert auf die Wand?
"Sehr richtig! Hier ist es ebenso.
"Aber das Zeugs bewegt sich?
"Weil hier statt eines Bildes hunderte und hunderte hintereinander projiziert werden, so schnell aufeinanderfolgend, dass man den Eindruck der Bewegung hat.
"Das versteh' ich nicht.
"Das menschliche Auge, gnädige Frau, hat die Gewohnheit, einen Bildeindruck noch einige Zeit festzuhalten, nachdem das Gesehene schon verschwunden ist. Das nennt man die Nachbild-Erscheinung. Wenn man nun - solang dies Nachbild im Auge noch vorhanden ist - wieder ein neues Bild in das Auge treten lässt, so vermischen sich die beiden Eindrücke. Ein im Kreise geschwungenes Licht erscheint als feuriger Kreis oder noch besser -
"Genug der Beispiele! Wie kriegt man aber so viele Bilder zusammen?
"Das will ich Ihnen gleich erzählen. Zuerst kommt noch der Projektionsapparat. Sehen Sie, da rückwärts den schwarzen Kasten, neben dem ein Feuerwehrmann steht und aus dem - aus dem Kasten nämlich, nicht aus dem Feuerwehrmann - ein greller Lichtkegel strömt, wie ein Scheinwerfer in dunkler Sturmnacht ...
"Keine dichterischen Phrasen, lieber Freund!
"Das ist der Projektionsapparat. Die Bildchen sind sehr klein, sie sind fortlaufend auf einem Streifen angeordnet, der vor der Lichtquelle, meist elektrischem Bogenlicht, vorbeibewegt wird. Bei der Laterna magica oder dem Skioptikon, wie 's jetzt verbessert heisst, steht das Bildchen fest, beim Kinematographen wird das Filmband, so heisst nämlich das Bildchenband, fortwährend bewegt. Die Filmbänder sind biegsam und durchsichtig, aus Zelluloid hergestellt: drum der Feuerwehrmann, denn Zelluloid ist sehr feuergefährlich! Natürlich sind die Zelluloidstreifen mit einem lichtempfindlichen Stoff überzogen, wie bei der gewöhnlichen photographischen Platte das Glas.
"Natürlich." Sie macht eine grossartige Gebärde des totalen Begreifens und springt ab: "Aber sagen Sie, warum zittert das Bild so oft? Es hat Fehler? Nicht wahr?
"Ja, schöne Frau! Das Zittern kommt von den Filmbandlochungen. Das Filmband wird von einer Rolle abgezogen und nach Passieren des Lichtkegels auf eine andere Rolle aufgewickelt: daher ist das Band mit Lochungen versehen, in die vorschiebende Zahnrädchen eingreifen. Wenn sich nun, durch oftmaligen Gebrauch, die Löcher des Filmbandes ausweiten, so zittert das Bild. Und die Flecken und Stricke im Bild stammen von nicht retuschierten Flecken und Kratzern oder von andern Fehlern in der Schicht des Bandes her.
"Die Menschen gehen und gestikulieren alle so hastig und puppenartig, viel schneller als im Leben. Nicht wahr?
"Gewiss! Die Reihenbilder müssen eben bei der Projektion schneller durch den Apparat geführt werden als seinerzeit die Aufnahmen erfolgten. Mindestens 30 bis 35 und mehr Bilder folgen in der Sekunde aufeinander, damit die zwischen den einzelnen Bildchen liegenden Verdunkelungen des Filmstreifens nicht unangenehm fühlbar werden: sonst entsteht das lästige Flimmern, das bei guten Apparaten, also hier" - ich schmeiss
mich in die Brust - "nicht vorkommt!" ...
"Pst!" Die Pause ist um; die Schinkensemmel ist verzehrt, die Männer, die die Saalluft desinfizierten, sind mit den Perolin-Spritzen verschwunden, es wird dunkel.
"Ein Ausflug im lenkbaren Luftschiff, Naturaufnahme.
... Der Riesenballon wird aus der Halle transportiert, die Propeller drehen sich, die Leute beginnen herum zu rennen, sie photographieren und schwenken die Hüte: der Ballon steigt, es ist als steige man mit ihm: man sieht den See und die Stadt - ich glaube, es ist Luzern -, wunderschön ist's, wie die Menschen unter einem immer kleiner und kleiner und schliesslich zu Streifen in der Draufsicht werden, doch: es interessiert dies alles meine kleine Frau nicht; sie ist in natura "mit Zeppelin" gefahren. Sie studiert die zischenden Lichtgarben, die den Saal durchfliegen, um jeden Punkt des Filmbandes gehorsam auf die Leinwand zu malen, sie beginnt leise zu reden: "Wie nimmt man denn das Zeugs auf? Ich meine, wie macht man den Filmstreifen?
"Entweder macht man eine Reihe photographischer Einzelaufnahmen sehr rasch hintereinander, es gibt schon Apparate, die 6 000 Aufnahmen in der Minute zuwege bringen, oder man photographiert in Zwischenräumen bei sehr langsamen Veränderungen des Objektes. Die Brüder Lumière in Lyon haben, wie gesagt, als erste solche Reihenbilder, sogenannte Diapositive, auf Zelluloidbänder - der Feuerwehrmann! - reproduziert und diese in den Handel gebracht.
"Wieder die Franzosen! Hört 's mir mit eurem Volk der Dichter und Denker auf. Die Moden kommen aus Paris und jetzt auch die Kinematographen.
"Die kamen übrigens aus Lyon! Und überdies hat Messter, unabhängig von den Franzosen, Anno 1896 den ersten deutschen Kinematographen erfunden!
"Sagen Sie, wer lässt sich denn eigentlich für solche Kinematographenvorführungen aufnehmen?
"Schauspieler! Oft sind die besten Kräfte dabei beschäftigt, es gibt bei den einzelnen Firmen riesige Aufnahmeateliers, in denen die ersten Künstler die Bilder ,stellen' - das ist ein hübscher Nebenverdienst ...
"Schwafeln Sie nicht!
"Gott ist mein Zeuge! In diesen Ateliers ist alles vorhanden, was ein erstklassiges Theater besitzt und noch mehr: Grundstücke werden gekauft, mit Wald und Feld und Eisenbahnstrecken, mit Grotten, Parks, Wasser, mit Einrichtungen aller Arten und Stile. Die Firmen scheuen keine Kosten; Fixigkeit ist hier das oberste Geschäftsprinzip. Sie rüsten Expeditionen in fremde Weltteile aus, sie schicken Aufnahmeapparate und Beamte zu jeder politischen Kundgebung, zu jedem Monarchenbesuch, zu jedem grossen Unglück, zu den bedeutenden Rennen allerart, kurz: dorthin, wo immer etwas geschieht oder geschah. So entstehen dann die ,natürlichen
Aufnahmen. Ein bis zwei Tage nach dem Ereignis, oder noch früher, gehen kilometerlange Filmbänder in die ganze Welt, für jedermann, um ein paar Wertmünzen, das grosse Ereignis reproduzierend.
"Wie lang ist denn so ein Filmstreifen?
"Für eine gewöhnliche Aufnahmereihe ist der Film ein drittel Kilometer lang; der Meter kostet etwa vier Mark und mehr.
"Das ist ja ein Riesengeld!
"In den Kinounternehmungen stecken Millionenkapitale - sie tragen reiche Zinsen. Die grössten Firmen produzieren täglich an die hundert Kilometer Film und beschäftigen weit über tausend Arbeiter. In Deutschland sind, nach einer sehr verlässlichen Schätzung, ungefähr zehn Millionen Mark in kinematographischen Apparaten angelegt.
"Das ist sicher aufgeschnitten!
"Auf Ehre!
"Pst! Da schauen 'S, das ist herzig - sind 'S jetzt endlich ruhig!
"Zauber der Musik." Ein Werkelmann fährt in einem Hofe mit seiner Musikkarre auf; er beginnt, mechanisch die Kurbel zu drehen. - Der Text erscheint in Riesenschrift auf dem Projektionsschirm, die Musikkapelle spielt jeweils, wenn der Werkelmann eine andere Platte in sein Musikwerk einlegt, das Stimmungslied - Kinder kommen hinzu, sie fassen sich unter und tanzen. Eine arme verblühte Näherin sitzt in der Dachstube vor der Nähmaschine: sie horcht auf. Spielt nicht das Werkel gerade drunten im Hof das alte Volkslied vom Schneiden und Meiden? Sie denkt ihres verschollenen Bräutigams - das Bild wechselt in die Vergangenheit zurück - sie geht mit dem schmucken Matrosen im Maienwald spazieren, er steckt ihr den Verlobungsring an den Finger, sie küssen sich. - Und nun sitzt sie weinend und dann wirft sie dem Werkelmann ein Geldstück durchs Fenster zu, dankbar im Schmerz, dass sein Lied ihr noch einmal die süsstraurige Erinnerung schuf.
Die kleine Frau ist gerührt. "Das ist sehr herzig!" sagt sie feindselig bestimmt und schluckt, denn sie kennt meine Gemütsroheit in solchen Situationen. "Das ist se-h-r herzig! Wirklich! Das ersetzt manches Theater.
Das ist ein Dolchstich gegen mich: "Ja, leider! Das Volksstück hat der Kinematograph schon umgebracht: die Masse geht lieber ins Kino, das ist billiger - o, unsere Theaterdirektoren! Warum können die nicht von der Luft leben? - und ,unterhaltlicher', auch gruseliger! Arme Schaubühne
Den ,Faust' haben sie schon auf den Filmstreifen und den ,Müller und sein Kind' - ein Stück, das einer mit der Ahnung des künftigen Kinematographen schrieb - hab' ich für Allerseelen auf den Litfasssäulen angekündigt gesehen.
"Lassen Sie den Menschen ihre Freuden!
"Gehen Sie nur einmal in so ein richtiges Vorstadtkino! ...
Ich hab 's ja gewollt; Sie waren der Traumichnicht!
"Die bringen unglaubliche Sachen, die alles eher als das Volk erziehen.
"Ich tät', statt bei dem Volk, bei meinen Kindern mit der Erziehung anfangen." - Das ist ein Hieb auf meinen Sohn Kurt! - "Und - was können sie denn gar so Schreckliches bringen?
"Das kann ich Ihnen nicht erzählen. Allerlei. Solche Kinos sind lebendige Schauer- [Schauerromane], Rassel- [Rasselromane] und Kriminal-Romane. Eine ordentliche Zensur gehört daher. Das Hauptpublikum solcher Kinos besteht aus Minderjährigen, aus Schulpflichtigen. Die könnte man so mühelos mit dem Kino bilden. Und es ist auch schon besser geworden; langsam kommt die Wissenschaft im Kino zur Herrschaft. Fremde Länder und Sitten werden vorgeführt, industrielle Herstellungsarten werden erklärt - nur die Kunst soll man mit dieser Maschinenbildmalerei verschonen! Alles ordnet sich von selber ein, auch das Kino wird seinen ihm zukommenden Platz erhalten, das geht ganz von selbst ...
"Na, dann lassen Sie 's gehen. Was soll denn die Wissenschaft - Sie meinen doch die von der Universität? - mit dem Kino anfangen?
"Der Kinematograph dient zur Meeresforschung, zur Messung der Wirkungsdauer von Explosivstoffen, zur Materialprüfung, zum Aufzeigen der Kristallbildung: in der medizinischen Wissenschaft ist er ein wichtiger Behelf geworden, Operationen werden so für den Studierenden festgehalten, seltene Krankheitsbilder aufbewahrt. - In neuester Zeit benützen auch Schauspieler den Kinematographen, um ihre eigene Wirkung zu studieren. Der Schauspieler oder die Schauspielerin lässt sich in der zu kontrollierenden Rolle aufnehmen und sieht sich dann agieren, ein Ding, das bisher den Schauspielern gänzlich verwehrt war.
"Ach? Da kann man sich selber beobachten, wie man aussieht? Natürlich
Sagen Sie, kostet so ein Apparat viel?
Ich sehe möglichst gleichgültig drein: "Es gibt billige Apparate für Amateure. Denken Sie nur", sage ich ein wenig hämisch, "wenn Sie das Wachstum Ihres Bubis so festhalten könnten, wie nett das wäre, wenn man ihn in fünf Minuten vorführen könnte: vom Embryo zum grossen Mann!
"Sie sind ein schrecklicher Mensch." Doch ihr Gedanke bleibt am Kinde haften. "Das wäre wirklich herzig. Ich will einmal mit Bobby sprechen.
- Das ist ihr Mann.
... Auf dem Projektionsschirm tanzen plötzlich die Dinge ohne Zusammenhang: Ein Herz flattert herein, ein Wurstel rennt ihm nach, ein Hammer kommt handgerecht durch die Luft geflogen, der Wurstel ergreift ihn und hämmert das Herz; der Hammer zerfliegt in Stücke, das rote Herz triumphiert in seiner Härte.
"Das sind handkolorierte Films", sage ich, "auch die Photographie in natürlichen Farben wird verwendet.
"Da! - Der Wurstel kriecht von rückwärts, mit den Beinen voraus, in die Schachtel hinein. Wie ist das möglich? Wie macht man den Unsinn?
"Das sind Kniffe. Hier zum Beispiel lässt man einfach das Filmband verkehrt laufen. Es gibt eine Menge solcher Kniffe, die die unglaublichsten Narrheiten erzeugen. Es gibt Menschen, die auf dem Kopfe gehen, die auf Wolkenkratzerfassaden hinaufrennen, als wäre dies ein Spaziergang. Der Kinematograph macht durch raffinierte Aufnahmetricks alles möglich. Aber er dient eben dann der Unterhaltung. Diente er bloss der Belehrung, um was wären die Jungen von heute gescheiter! ...
"Und dabei sind wir doch gar nicht so alt!
"Na, ja.
"Sie vielleicht!" sagt sie empört.
"Damen altern allerdings nicht so rasch.
"Sie sind unverschämt! Woher kommt eigentlich das Wort Kine-ma-to-graph? So heisst 's doch? Ich hab' Sie früher schon einmal gefragt, warum das Zeug Kino heisst: Sie sind mir aber ausgequitscht. Wissen Sie 's nicht?
"Das Wort stammt aus dem Griechischen: kinema, kinematos heisst die Bewegung und grapho heisst: ich schreibe.
"Ach ja, freilich - das hätt' ich wissen können. Danke schön." Und sie dreht das feine Profil der Bühne zu, ich seh' wie sich ihre Lippen bewegen; sie lernen für den nächsten Jour, Kinemato = Bewegung, graph = aufschreiben. Ein bisserl falsch, aber es wird imponieren! Mit einem Male wird das kindliche Frauenantlitz bleich: ,Um Gott, die Hofrätin hat ja studiert; die kann am Ende Griechisch?' Sie muss noch einmal fragen: "Lieber Freund, wenn Sie den Artikel für Velhagen u. Klasing geschrieben haben, sagen Sie mir 's! Ja? Ich will ihn meinem Manne zu lesen geben - der ist in so neuen Dingen schrecklich indolent: er denkt nur an sein Geschäft. Und die griechische Erklärung kinematog = bewegen und raph = aufzeichnen, vergessen Sie nicht hineinzuschreiben, das macht sich gut. Nicht vergessen!" Und sie droht ernstlich mit dem Finger.
"Gewiss nicht, teure Gefährtin!
Und so hab' ich 's getan! Wolle Gott, dass mir die Frau Lotte dafür gewogen bleibt

Please enable Javascript
This site only works with Javascript enabled. Please check your browser settings and then reload this page. Thank you.