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#4219

Das Theater, 1909, Jg. I, Nr.8, S.191-192

[Das Theater 1909, Jg.I, Nr.8, S.191-192 Döblin, Alfred: Das ...]

Das Theater 1909, Jg.I, Nr.8, S.191-192

Döblin, Alfred: Das Theater der kleinen Leute

Der kleine Mann, die kleine Frau kennen keine Literatur, keine Entwicklung, keine Richtung. Sie pendeln abends durch die Strassen, stehen schwatzend unter den Eisenbahnbrücken, sehen sich einen gestürzten Gaul an; sie wollen gerührt, erregt, entsetzt sein: mit Gelächter losplatzen. Der stärkste Toback steht bereit. Es handelt sich um die Erreichung von Folterkammern, Seetieren, eventuell um Beteiligung an Revolutionen.

Gegeben sind die Anatomietheater, Panoptika, Kinematographen. Sie pflegen das höchst Verwunderliche und durchaus Grässliche. Die Güte der Darbietung steht in direkter Proportion zur Stärke der erzielten Gänsehaut. Der Besucher eines Panoptikums ist beim Eintritt im Zweifel, ob er erst einer grimassierenden kaiserlichen Familie seine Reverenz erweisen oder die Daumenschraube besichtigen soll, taumelt zwischen Ehrfurcht und Entsetzen. Da sieht er eine "Mundbirne": "dieselbe wurde dem Delinquenten in den Mund gesteckt und dann auseinandergeschraubt; sie öffnete sich nach vier Seiten und dehnte den Mund so stark auseinander, dass die Unglücklichen nur winselnde Töne hervorzubringen imstande waren und denselben oft die Mundhöhlen zersprengt wurden". Der Fremdling staunt einen schlottrigen Fürsten Bismarck an, eine Riesenkartoffel; nimmt den aufgeschnittenen Leib eines weiblichen Störs zur Kenntnis, welcher Kaviar, die beliebte Delikatesse, produziert: sieht eine geistig umnachtete Mutter ihr eigenes Kind unter Nr. 486 in einem Kessel sieden. Halbtot schleppt er sich vor einen Poenitenzkäfig aus der Gegend von Eisleben; wie ein Schlag trifft den Entsetzten noch am Schluss der Anblick der Württembergischen Stiefel; der Höhergebildete ist nämlich an den Füssen sehr empfindlich.

Der Situation ist er nicht gewachsen; schwer geht es ihm ein, dass diese Institute ein wechselndes Bild der fortschreitenden Kultur geben; und er trinkt ein Glas Bier zu zivilen Preisen.

Nunmehr schwärmt er in die Kientopps. Im Norden, Süden, Osten, Westen der Stadt liegen sie; in verräucherten Stuben, Ställen, unbrauchbaren Läden; in grossen Sälen, weiten Theatern. Die feinsten geben die Möglichkeiten dieser Photographentechnik zu geniessen, die fabelhafte Naturtreue, optischen Täuschungen, dazu kleine Spassdramen, Romane von Manzoni: sehr delikat. Oh diese Technik ist sehr entwicklungsfähig, fast reif zur Kunst. - In den mittleren Theatern leuchtet schon der "Brand Roms", hetzen schon Verfolger Menschenwild über Dächer, Strassen, Bäume.

Erst die kaschemmenartigen im Norden haben aber ihr besonderes Genre, sind weit über dem Niveau des bloss Künstlerischen. Grelle Lampen locken über die Strasse; in ihrem Licht sieht man meterhohe bunte Plakate vor der Türe hängen, eine Riesenorgel tobt: "Eine Mordtat ist geschehen.

Den Korridor zum Saale füllen ausgestopfte Untiere hinter Glas, Vergnügungsautomaten. - Drin in dem stockdunklen, niedrigen Raum glänzt ein mannshohes Leinwandviereck über ein Monstrum von Publikum, über eine Masse, welche dieses weisse Auge mit seinem stieren Blick zusammenbannt. In den Ecken drücken sich Pärchen und lassen entrückt mit den unzüchtigen Fingern von einander. Phthisische Kinder atmen flach und schütteln sich leise in ihrem Abendfieber; den übelriechenden Arbeitern treten die Augen fast aus den Höhlen; die Frauen mit den muffigen Kleidern, die bemalten Strassendirnen beugen sich vornüber und vergessen ihr Kopftuch hochzuziehen. Panem et circenses sieht man erfüllt: Das Vergnügen notwendig wie Brot; der Stierkampf ein Volksbedürfnis. Einfach wie die reflexartige Lust ist der auslösende Reiz: Kriminalaffären mit einem Dutzend Leichen, grauenvolle Verbrecherjagden drängen einander; dann faustdicke Sentimentalitäten: der blinde sterbende Bettler und der Hund, der auf seinem Grabe verreckt; ein Stück mit dem Titel: "Achtet die Armen" oder die "Krabbenfängerin"; Kriegsschiffe; beim Anblick des Kaisers und der Armee kein Patriotismus; ein gehässiges Staunen.

Deutlich erhellt: der Kientopp ein vorzügliches Mittel gegen den Alkoholismus, schärfste Konkurrenz der Sechserdestillen; man achte, ob die Lebercirrhose und die Geburten epileptischer Kinder nicht in den nächsten zehn Jahren zurückgehen. Man nehme dem Volk und der Jugend nicht die Schundliteratur noch den Kientopp; sie brauchen die sehr blutige Kost ohne die breite Mehlpampe der volkstümlichen Literatur und die wässerigen Aufgüsse der Moral. Der Höhergebildete aber verlässt das Lokal, vor allem froh, dass das Kinema - schweigt.

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