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Der Tag, 15.11.1914
Im Kino - Skizze
Im Regen wandelte ich durch die Friedrichstrasse. Da wurde der Regen stärker. Unschlüssig blieb ich stehen. Da fiel die Lichtreklame eines Lichtspieltheaters in mein Auge. Nach kurzem Zaudern ging ich hinein.
Der Raum war verdunkelt. Ich sah noch ein deutsches Kriegsschiff die letzten Vorbereitungen für den grossen Kampf treffen, sah es Kohlen einnehmen, sah die Besatzung an Bord gehen (ein Matrose nahm sogar in weiser Voraussicht für alle Fälle einen deutschen Weihnachtsbaum mit) und sah es unter Grüssen und Tücherschwenken einer zahllosen Menge in See gehen.
Dann wurde es hell. Ich nahm einen Platz und sah mich um. Der Raum war massig besetzt; im Range waren an der Brüstung einige Leute zu sehen, in den Logen niemand.
Schräg hinter mir hatten zwei junge Mädchen ihre Plätze. Eins von ihnen strickte mit langen hölzernen Nadeln eine Leibbinde oder Unterjacke aus grauer Wolle und entwickelte dabei eine aussergewöhnliche Fertigkeit. Am Ringfinger der linken Hand sah ich einen steinlosen Goldreif glänzen und wusste nun, für wen. Auch Teile ihres Gesprächs fing ich auf, und die Schlagworte unserer bewegten Zeit klangen an mein Ohr.
Dann musste ich aufstehen und einen ziemlich beleibten älteren Mann vorbeilassen, der zu meiner Linken Platz nahm. Gleich darauf wurde ein Film abgerollt, der mich nicht interessierte, und ich hatte Gelegenheit, einige Augenblicke lang die Silhouette einer Dame in Schwarz im halbdunklen Raume sich abheben zu sehen, die sich schräg von mir niederliess. Die Kriegerbraut strickte, wie ich durch eine leichte Wendung feststellen konnte, auch in der Finsternis unentwegt weiter; ihre weissen Hände bewegten sich geschäftig hin und her. Und während ich überlegte, dass es unsereinem wahrscheinlich eher gelingen würde, die Neunte Sinfonie zu komponieren, die Decke der Sixtinischen Kapelle auszumalen, oder den Faust zu schreiben, als es zu dieser bei Frauen weit verbreiteten Fertigkeit zu bringen, war der Film zu Ende, und es wurde hell.
Die Dame in Schwarz trauerte. Wer dies blasse, verhärmte Gesicht sah, das von durchweinten Nächten zu reden wusste, während es nach aussen Fassung und Haltung zeigte, der zweifelte nicht mehr. Hierher war sie geflohen, die Gedanken zu scheuchen, die Nacht zu kürzen. Trauerte sie um den Mann? War er, "vorm Feind erschlagen", den schönsten Tod gestorben, der in der Welt ist, oder einen nüchternen alltäglichen Strohtod?
Wieder verdunkelte sich der Raum; diesmal um einen Film zu zeigen, der des allgemeinen Interesses sicher sein konnte: Kriegsbilder. Eroberte Städte in buntem Wechsel mit Gulaschkanonen und wirklichen Kanonen, von den Feinden verlassenen Artilleriestellungen mit unbrauchbar gemachten Geschützen, gesprengten Brücken, zerschossenen Festungen und Forts. Jedesmal, wenn die gewaltigen Wirkungen unserer schweren Geschütze gezeigt wurden, ging ein Geraune und Gemurmel durch den Raum. Mein Machbar zur Linken aber lachte bei jedem dieser Bilder leise und wohlgefällig vor sich hin und sagte von Zeit zu Zeit:
"Dunnerwetter noch mal ... das is ja ... das is ja ... Dunnerwetter noch mal!
Als es hell geworden war und unsere Blicke sich trafen, wandte er sich zu mir.
"Sie müssen nämlich wissen, ich hab' einen Sohn dabei, der is Richtkanonier. Ein Auge hat der, sag' ich Ihnen, ein Auge - der sieht Ihnen 'n Regenwurm aus der Dachluke. Und wenn ich nun so 'n Volltreffer sehe, muss ich immer denken: den könnte ganz gut mein Karle gehabt haben.
"Solche Bilder geniessen Sie also doppelt. Da müssten Sie eigentlich auch doppeltes Eintrittsgeld zahlen.
Er nickte lachend und wollte noch etwas sagen. Aber es wurde wieder dunkel. Es kam der Kriegsbilder zweiter Teil. Man lernte Longwy kennen oder vielmehr das, was einst Longwy war. Man ging durch die Strassen zerstörter Ortschaften, wenn man den schmalen Fahrweg Strasse nennen darf, den zu beiden Seiten Wälle von Schutt und Geröll begrenzten, die einst Häuser waren.
Und dann kam Maubeuge.
Ein zerstörtes Fort mit zerschossenem Panzerturm wurde sichtbar, an dem unsere Geschütze wirklich prachtvolle Arbeit geleistet hatten. In gewaltigen Trümmern war er unter den Volltreffern der deutschen Batterien zusammengestürzt. Wenige Schritte weiter befand sich ein Tor, das einen unterirdischen, ins Innere der Festung führenden Durchgang eröffnete. Hier ging ein einsamer Posten, ein kräftiger, hochgewachsener Landwehrmann, Gewehr über, langsam auf und ab.
Die Dame in Schwarz hatte sich erhoben. Auf die vordere Stuhlreihe gestützt, stand sie vornüber gebeugt und starrte mit weit geöffneten Augen auf die flimmernde Wand. Ihre Lippen bewegten sich und leise Flüsterlaute wurden hörbar.
"Setzen!" rief eine starke Stimme hinter ihr.
Plötzlich hielt der Posten in seiner Wanderung inne und sah blinzelnd aufmerksam ins Weite. Nach kurzer Zeit lösten sich seine Züge, in seinen starken, verwilderten Feldzugsbart kam Bewegung, zwei Reihen prächtiger Zähne zeigten sich, und sein ganzes, gebräuntes Gesicht verzog sich zu einem breiten, unendlich gutmütigen Lachen.
"Heinrich!" gellte da eine erschütternde Stimme durch den Raum.
Und noch einmal: "Heinrich!
Ich sah die Dame in Schwarz die Hände hoch über den Kopf heben.
Dann fiel sie schwer hintenüber.
Und es ward Licht.

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