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#3697

Prometheus, S.317-318

Dr. W. Stern
[Der "Schnellseher" ist ein Apparat, der unter dem Namen ...]

Der "Schnellseher" ist ein Apparat, der unter dem Namen "Stroboskop" in der Wissenschaft schon lange seinen Platz hat, aber dem grösseren Publikum ist er erst seit wenigen Jahren durch die Schaustellungen des Herrn O. Anschütz, durch seine Verwerthung zu Kinderspielzeugen und durch seine Vorführung in Automaten bekannt geworden. Wir können jetzt wohl von den meisten unserer Leser voraussetzen, dass sie schon einmal einen Schnellseher gesehen haben, dagegen werden sich viele darüber nicht klar sein, was die Psychologie, die Wissenschaft vom Leben der Seele, damit zu schaffen habe. Doch ich hoffe, diesen Zweifel bald beheben zu können.

Der Schnellseher besteht bekanntlich in einer oben offenen, aussen schwarzen rotirenden Trommel, deren Mantel mit einer Reihe von schmalen Schlitzen versehen ist. Die Innenseite des Mantels unterhalb der Öffnungen trägt einen rings herum laufenden Papierstreifen, und dieser ist mit einer Reihe von Bildern bedeckt, welche alle auf einander folgenden Phasen einer einzelnen Bewegung darstellen. Da sieht man Reiter, die über eine Hürde setzen, Hunde, die nach einem Stück Fleisch schnappen, Männer, die über einander Bock springen, und andere Bewegungsvorgänge in ihre einzelnen Momente zerlegt. (Diese Phasen wurden früher nach der Phantasie gezeichnet, werden aber jetzt durch eine sehr vollkommene Methode der Momentphotographie gewonnen.) Beginnt man nun die Trommel um ihre vertikale Achse zu drehen und blickt man unverwandten Auges durch die vorüberziehenden Schlitze auf die gegenüber liegenden Bilder, so sieht man bei einer gewissen Geschwindigkeit der Drehung nicht mehr die einzelnen Phasen, sondern an ihre Stelle tritt jetzt der unmittelbare Eindruck der Bewegung selbst. Der Reiter scheint Leben zu bekommen und wirklich über die Hürde zu setzen; der Hund zappelt in höchster Naturtreue u.s.w. Woher stammt nun diese höchst merkwürdige Wahrnehmung? Wie ist das plötzliche Auftreten des Bewegungseindrucks, der sich doch durchaus von der wirklich stattfindenden Rotationsbewegung unterscheidet, zu erklären? Die Beantwortung dieser Frage greift ins psychologische Gebiet über, denn die Thatsache, dass wir gewisse Gesichtsempfindungen als Zeichen einer Bewegung auffassen, andere nicht, ist ein Factum unseres Seelenlebens; und psychologisch wollen alle sogen. optischen Täuschungen, zu denen ja die Erscheinungen des Schnellsehers gehören, erklärt und gedeutet sein.

Unsere erste Frage lautet daher: "Wie sehen wir Bewegungen?

Wenn ein Gegenstand sich in unserm Gesichtsfeld bewegt, so sind zwei Möglichkeiten vorhanden: entweder wir verfolgen ihn mit unserm Auge, oder wir lassen ihn am Auge vorüberziehen. Im ersteren Falle haben wir das Bild des Objectes stets an derselben Stelle unserer Netzhaut, also gewissermaassen [!] ruhend; wir halten ihn aber doch für bewegt, weil wir von den mitgehenden Bewegungen unserer Augen durch Empfindungen in den Augenmuskeln ein unmittelbares Bewusstsein haben. Diese Art des Bewegungssehens hat indessen beim Anschützschen Schnellseher nicht statt, da hier das Auge unverwandt nach derselben Richtung blickt.

Wichtiger für unsern Zweck ist daher die Analyse des Eindrucks, den ein Object erzeugt, welches sich an unserm Auge vorbeibewegt. Hier ist die Art der Wahrnehmung verschieden je nach der Geschwindigkeit der Bewegung. Erfolgt sie sehr langsam, wie etwa beim Stundenzeiger der Taschenuhr, dann haben wir bei jedem einzelnen Act des Hinsehens den Eindruck, als ob der Zeiger stillstehe; erst indem wir die jetzige Stellung mit früheren vergleichen, die wir noch in der Erinnerung haben, schliessen wir, dass der Zeiger sich bewegt hat. Die Bewegungsauffassung ist hier also keine unmittelbar sinnlicbe, sondern ein Schluss. - Geht die Bewegung nun schneller, so beginnt eine Erscheinung mitzuspielen, die man mit dem Namen "Nachbild" bezeichnet. Sie besteht bekanntlich darin, dass die Wirkung eines äusseren Reizes im Auge länger dauert als der Reiz selbst. So hat Jeder, der kurze Zeit in die Sonne geblickt hat, noch lange Zeit nachher, selbst bei geschlossenem Auge, das Sonnenbild im Gesichtsfeld. War nun beim Stundenzeiger die Bewegung so langsam, dass wir sie noch nicht direct sahen, so kann bei sehr schnellen Bewegungen das Nachbild bewirken, dass wir sie nicht mehr als solche sehen. So erscheint eine schnell im Kreise geschwungene glühende Kohle nicht als ein sich bewegender glühender Punkt, sondern als stillstehender feuriger Kreis. Warum? Weil das Nachbild jeder Phase in voller Stärke so lange anhält, bis die Kohle den Weg einmal herum zurückgelegt hat, d.h. an die Stelle des Nachbildes wiederum der frische Eindruck tritt. Es findet somit in keinem einzigen Punkte des Kreisumfangs ein Erlöschen oder auch nur Schwächerwerden des Gesichtsbildes statt, solange die Drehung währt. Ganz deutlich haben wir endlich den Eindruck einer Bewegung, wenn dieselbe mit einer mittleren Geschwindigkeit, also nicht so langsam wie beim Stundenzeiger und nicht so schnell wie bei der Kohle von Statten geht. Denken wir uns, ein Wagen fahre in einiger Entfernung an uns vorüber, und zerlegen wir uns im Geiste die Bewegung in eine Reihe auf einander folgender Phasen. Dann wird, wenn die zweite Phase erreicht ist, d.h. wenn eine neue Stelle der Netzhaut vom Bilde des Wagens getroffen wird, das Nachbild der ersten Phase noch nicht erloschen sein, aber es wird nicht mehr in voller Stärke existiren, sondern schon, wie man sich ausdrückt, ein wenig "abgeklungen" sein. Ist der Wagen in der dritten Phase, dann wird das Nachbild der zweiten in noch ziemlicher Intensität, das der ersten in geringerer Stärke sichtbar sein u.s.w.; kurz, wir werden neben einander eine Reihe von Bildern des Gegenstandes haben, und zwar so, dass ein Bild immer etwas stärker ist als das neben ihm liegende. Diese einzelnen Nachbilder kommen uns nun zwar im allgemeinen nicht gesondert ins Bewusstsein, dafür aber ruft die ganze "abgestufte Nachbildreihe" in ihrer Gesammtheit einen eigenthümlichen Eindruck hervor, und dieser Eindruck ist es, den wir unmittelbar als Bewegung deuten. Immer also, wenn bei ruhendem Auge ein Gegenstand im Gesichtsfelde sich mit mittlerer Geschwindigkeit bewegt, entsteht eine "abgestufte Nachbildreihe", und umgekehrt werden wir immer, wenn wir einen solchen Nachbilderstreifen wahrnehmen, auf eine entsprechende Bewegung als dessen Ursache schliessen. Eine optische Bewegungstäuschung wird somit dann eintreten, wenn ein solcher Nachbildstreifen auf ungewöhnliche Weise, d.h. nicht durch die dazu gehörige objective Bewegung erzeugt wird. Dies ist aber beim Schnellseher der Fall. Hatten wir oben die Bewegung des Wagens nur im Geiste in eine Reihe von Phasen zerlegt, so ist dies beim Schnellseher in Wirklichkeit geschehen: jede Phase ist gesondert neben den anderen abgebildet. Da neu in Folge der Rotation die Bilder nach einander dem Auge vorgeführt werden, so muss die Wirkung genau dieselbe sein wie oben; jedes einzelne Bild erzeugt auf der Netzhaut den Eindruck der betreffenden Phase, und die Nachwirkung dieses Eindrucks besteht noch in gewisser Stärke, wenn das nächste Bild, d. h. die folgende Phase das Auge trifft, ja bei genügend schneller Drehung auch dann noch, wenn das übernächste und das vierte Bild vorbeiziehen. Wir erhalten also wiederum eine abgestufte Nachbildreihe, die wir als Bewegung deuten.

Hier wäre vielleicht Mancher geneigt zu fragen, was denn die Schlitze für einen Zweck haben; der Erfolg müsste doch völlig der gleiche sein, wenn man ohne weitere Apparate den Papierstreifen am Auge vorbeizöge. Aber dem ist nicht so. In letzterem Falle würde nämlich das Auge nicht in Ruhe bleiben, sondern unwillkürlich eines der Bilder fixiren und dessen seitlicher Bewegung nachfolgen. Man würde dann eine davonschwebende Einzelphase, aber nicht ein Zusammenwirken aller Phasen wahrnehmen. Dies verhindern die Schlitze; dadurch dass sie in entgegengesetzter Richtung am Auge vorbeiziehen wie die Bilder, machen sie jedes derselben nur für einen ganz kurzen Moment sichtbar und entziehen es sofort wieder dem Blick, der deswegen nicht im Stande ist, ihm nachzufolgen. - Ich will hier nicht verschweigen, dass trotzdem von einer Seite behauptet worden ist, der Bewegungseindruck beim Schnellseher werde durch Augenbewegungen erzeugt. Diese Ansicht hat Herr O. Fischer, der überhaupt über das stroboskopische Sehen höchst interessante Experimente angestellt hat (1), auf die einfachste Weise widerlegt.

Durch sinnreiche Zeichnung der Phasenbilder brachte er den Eindruck von 24 Punkten hervor, die sich gleichzeitig von einem Centrum nach allen Richtungen hin entfernen und sich ihm dann wieder nähern. Würden hier Augenbewegungen mitspielen, dann hätte das Auge nichts weniger zu thun, als sich nach 24 Seiten gleichzeitig zu drehen; und das möchte selbst den geübtesten Augenverdrehern unmöglich sein.

Noch ein Punkt sei hier kurz erwähnt: auch die schwarze Färbung der Aussenseite des Schnellsehers hat ihren Grund. Damit die Nachbilder der einzelnen Phasen sich erhalten, darf inzwischen kein fremdartiger, nicht dazu gehöriger Eindruck das Auge treffen. Dies wäre aber der Fall, wenn der Raum zwischen den Schlitzen aussen hell wäre; die Wirkung der hellen Farbe würde die Phasenbilder, wenn auch nicht völlig verwischen, so doch bedeutend abschwächen.

So verschaffen uns denn die interessanten Gesichtstäuschungen des Schnellsehers einen tiefen Einblick in die Eigenthümlichkeit gewisser seelischer Phänomene; und vielleicht wird der eine oder andere der Leser nun, da er weiss, wie 's zugeht, die Scheinbewegungen im Schnellseher mit erhöhter Aufmerksamkeit betrachten.

(1) Philosoph. Studien, Bd. III, S. 128.

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