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Photographische Industrie, 1909, S. 94-97; mit 1 Abb
Kinematographie
"Das lebende Porträt", - ein Zweig der Kinematographie, der noch kaum im ersten Ansatz, aber wohl der Pflege wert ist; wir haben schon öfters auf dieses Gebiet hingewiesen. Reynaud hat jetzt einen Apparat konstruiert, der speziell diesem Zwecke dienen soll und als besondere Eigenschaft noch die aufweist, dass er sogar stereoskopische Bilder vorführt. Nach "Argus-Phono-Cinema" (1908, Nr. 91, S.6), dem wir auch das Bild entnehmen, besteht der Vorführungsapparat aus einem im Rahmen B sitzenden, mittels der Kurbel M drehbaren Doppel-Zylinder, an dem an den inneren Flächen der beiden Zylinder zwei kurze stereoskopisch aufgenommene Serien von lebenden Bildern angebracht sind. Die Betrachtung erfolgt mit Hilfe der in der Mitte zwischen den beiden Zylindern sitzenden Spiegel und geeigneter Prismen in dem (rechts von B sichtbaren) Okularteil; zur Projektion werden die Prismen durch Objektive ersetzt. Im Sockel S können weitere Bilderserien aufbewahrt werden. Der Apparat, der eine Fortbildung des alten "Praxinoskops
darstellt, erhielt den Namen "Stereopraxinoskop". Über den die Bilder liefernden Aufnahmeapparat sagt unsere Quelle nichts.
Dem von literarischer und artistischer Kultur beleckten Film, der die Herrschaft der geschmacklosen [Zauber-Films] Zauber- und Mordio-Films brechen soll, widmet sich die neue "Société du Film d' art" und die "Société Cinématographique des Auteurs et Gens de lettres". Im Vereine mit diesen Gesellschaften bringt die bekannte Weltfirma Pathé Frères diese Films auf den Markt. Diese Films sind nicht ausschliessliches Eigentum der Firma, sondern das literarische und artistische Eigentum dieser Gesellschaften, die sich das Recht vorbehalten, ihre Films stets dem Markte zu entziehen, sobald sie dies für angebracht erachten. Aus diesem Grunde werden diese Films nur leihweise erhältlich sein. Es handelt sich bei diesen Films zumeist um ganze Aufführungen, die von ersten Schriftstellern und Schauspielern entworfen und ausgeführt sind. Als Miete werden für diese Films, ob schwarz, getont oder koloriert, 50 M pro 100 m und pro Woche berechnet. Die Namen der mitwirkenden Artisten, die allerberühmtesten Persönlichkeiten der grossen Schauspielerwelt, werden bei jedem Film bekannt gegeben. Man kann hoffen, dass dieses lobenswerte Zusammenarbeiten von Kunst und Industrie zu einer Hebung des Niveaus der kinematographischen Darbietungen führen wird. Die Vereinigung ist in der Lage, ganz ausserordentlich hohe Honorare zu zahlen: Autoren sollen mit wenigen Seiten (es ist nur die szenische Schilderung zu liefern) 40 000 frcs. verdient haben, so dass die von der genannten Gesellschaft aufgestellte Behauptung richtig zu sein scheint, Schriftsteller würden in ihren Diensten weit mehr verdienen, als wenn sie ihre Ideen ausarbeiten und in Druck geben. Vor kurzem hat die französische Gesellschaft auch in Berlin eine Versammlung veranstaltet, um auch deutsche Kräfte als Mitarbeiter zu gewinnen. Nach einigen Vorträgen fanden vorzügliche kinematographische Vorführungen statt. Vielleicht fasst diese neue Bewegung auch bei uns in Deutschland festen Fuss, so dass wir bald in künstlerischer Beziehung vollkommene Kinematographenbilder nicht mehr vom Anlande zu beziehen brauchen, sondern der einheimischen Industrie entnehmen können.
In Paris hat die Bewegung schon weite Kreise gezogen; so wurde kürzlich berichtet, dass unter der Bezeichnung "Visions d' Art" im eleganten Saal Charras eine Probe kinematographischer Kunstwerke, die durch das Zusammenwirken von Dichtern, Musikern und hervorragenden
Schauspielern entstanden sind, vor einem gewählten Publikum vorgeführt wurde. Ein historischer Akt von Lavedan "Die Ermordung des Herzogs von Guise" [FID 3598], zeigte LeBargy und Lambert vom Theatre français in echten geschichtlichen Interieurs. Ein modernes Apachenstück, zu dem Fernand LeBorne die Musik geschrieben, wurde photographisch von dem grossen Pantomimiker Sévérin, von Dearly, der Mistinguette und anderen Pariser Sternen dargestellt. Man sah die Badet in einem verführerischen Tanz nach der Antike und hörte ungedruckte Poesie von Rostand, durch kinematographische Bilder der Cléo de Merode und anderer Schönheiten illustriert.
Leider hat die Entwicklung der kinematographischen Industrie, die gegenwärtig den ertragreichsten Zweig der photographischen Industrie darstellt, bei uns eine so zögernde Entwicklung genommen, dass Frankreich und England das Terrain erobern konnten, und jetzt, trotz einzelner trefflicher Leistungen unserer Industrie, am Markte vorherrschen. Es ist daher dringend nötig, dass jede deutsche Leistung auf diesem Gebiete überall volle Beachtung und Förderung erfahre, denn nur so wird es möglich sein, den Vorsprung wieder einzuholen. Unter den wackeren Arbeiten unserer deutschen Spezialfirmen, speziell der Werke von Liesegang und Ernemann und der deutschen Kinematographen-Werke (Dresden), seien als Beispiel die letzten äusserst wertvollen botanischen Aufnahmen von Ernemann hervorgehoben: das Erblühen einer Victoria Regia: langsam und gleichmässig sinken die Knospenhüllen, langsam und gleichmässig, fast feierlich anzuschauen, hebt sich ein Blütenblatt vom anderen, bis die Nymphäa zur vollen Pracht entfaltet ihres Daseins Gipfelpunkt erreicht hat. Doch alles Irdische vergeht: die noch eben u frisch ausgebreiteten zartkräftigen Blütenblätter verlieren sichtbar ihre Straffheit und sinken mehr und mehr herab, den Knospenhüllen folgend, der Blütenstengel verliert an Spannkraft und die ganze Blüte neigt sich mehr und mehr dem Wasser zu. Das zweite Bild zeigt das Erblühen einer Königin der Nacht. Dieser Film reiht sich dem vorigen in würdiger Weise an; diesmal ist es eine Repräsentantin aus der Familie der Kakteen, deren Blütenerschliessung dem Kinematograph, trotz der Kürze der gesamten Blütendauer, aufzunehmen geglückt ist; es würde zu weit führen, die botanischen und technischen Schwierigkeiten, die in diesen Aufnahmen überwunden sind, zu würdigen.
Auch die Mikrokinematographie macht erfreuliche Fortschritte: Henri (Paris) hat kinematographische Untersuchungen über die Brownschen Bewegungen gemacht, führt z. B. die Bewegung der Teilchen einer Kautschukemulsion (Latex) kinematographisch vor. Die auf das 400fache vergrösserten Mikrophotographien, von welchen pro Sekunde 20-40 aufgenommen wurden, erfahren durch die Projektion auf die Leinwand eine weitere Vergrösserung. Zufolge der auf der photographischen Platte angebrachten Hundertelmillimeterteilung konnte die Bewegung der Teilchen, die von dem Grade der Azidität oder Alkalinität des Lösungsmittels merklich abhängig ist, gemessen werden.
Eine andere, wirklich sensationelle Aufnahme (wir sind mit der Bezeichnung "sensationell" gewohnheitsmässig sehr sparsam) hat kürzlich gelegentlich eines in Bern gehaltenen Vortrages Dr. Ries, ein Bruder der Bildhauerin Feodorowna Ries, demonstriert: die Darstellung der Befruchtung und Furchung des Seeigel-Eies, dieses von Loeb (Boston) in so glänzender Weise ausgeführten Experimentes. Dr. Ries verwendet eine Einrichtung, die es ermöglicht, das lebende Objekt in seinen Bewegungen auf der matten Scheibe mikroskopisch zu beobachten und im entscheidenden Momente die Aufnahme zu beginnen. (1) Wenn Lemke (Intern. Film- u. Kin.-Ind., 1908, S. 347) dazu bemerkt, dass solche Aufnahmen nichts Neues seien, und als Beleg dafür anführt: "es existiert ein vorzüglicher kinematographischer Film, wie ein Schmetterling entsteht; dieser behandelt die Entwicklung einer Raupe aus dem Ei und das Ausschlüpfen des Schmetterlings aus der Puppe; es gibt ferner Films über allerlei Insekten", so übersieht er, in dem Bestreben, dem uns unbekannten Urheber obiger Meldung "eins auszuwischen", die hohen Schwierigkeiten der Fixierung dieses biologischen Vorganges und die unvergleichlich stärkere dazu nötige Vergrösserung.
Aus einer Reihe von Äusserungen von Schulknaben und Mädchen, die der "Kinematograph" publiziert, wählen wir folgende aus, die, psychologisch sehr interessant, ein treffendes Urteil über den heutigen Bilder-Unfug und künftige bessere Aufgaben fällen:
"Es wäre recht schön, wenn wir in der Geschichtsstunde Kriege und andere Ereignisse lebendig sehen könnten, da würden wir uns alles viel besser merken, als wenn wir es bloss hören und lesen.
"Balladen von Schiller müssten schön sein im Kino.
"Manche Schulen haben den Kindern den Zutritt in den Kino verboten; wenn die Schulen selbst Kinos hätten, mit schönen Films, worüber man auch Fragen an den Lehrer stellen könnte, würden sich die Kinder nicht so nach den Kino-Theatern sehnen, weil sie dann auch kein Geld auszugeben brauchten.
"Die Mädchen sind nicht so für den Kino, weil sie nicht so gern ein Drama und Sherlock Holmes-Geschichten sehen. Wenn schöne Märchen gezeigt werden und Volksfeste mit Tanz oder Hochzeit, würde es denen schon gefallen.
"Ich liebe die [Naturaufnahmen] Natur- und Länderaufnahmen sehr, auch Bilder über die Sitten fremder Völker (2) und das Tierleben.
"Mikroskopische Films sind sehr schön, wenn man das Leben in einem Wassertropfen oder im Käse sieht.
"Bilder aus dem Leben, wo man weiss, dass sie nicht gemacht sind, sehe ich immer am liebsten. Sehr interessant sind Soldatenbilder, Brückenbau, Sprengen von Schornsteinen, Walfischjagd, Alpenbesteigung, unsere Soldaten in Afrika, die Sitten und Gebräuche fremder Völker.
"Ich möchte gern einmal im Kino sehen, wie es in einem tiefen Bergwerk ist.
"Ich habe mal im Kino gesehen, wie es in einem Bienenstock und in einem Ameisenhaufen zugeht, das war sehr schön.
Da wird es wohl noch weit sein bis dahin! Vorläufig sagt folgendes Reklameplakat genug:
"Eben eingetroffen
Das schreckliche Unglück in Messina! 200 000 Tote!
Zum Schlusse sei noch über eine nicht zu seltene neue Krankheit berichtet, die "Kinephobie" (Furcht vor dem Kinematographiert-Werden). Wilbur Wright, der kühne Flieger, geriet kürzlich in Erregung (der phlegmatische Amerikaner!) über einen indiskreten Kino-Knipser; er verlangte von ihm die Filmrolle, und der zur Rede Gestellte händigte ihm auch richtig schliesslich die Rolle aus, setzte sich dann in sein Automobil und rief triumphierend im Fortfahren, dass er ihm ja gar nicht die richtige Rolle gegeben habe! Und Wright flog ihm darauf nicht einmal nach, dem Kino-Räuber ...
(1) Vergl. dazu "Die Kinematographie" von Wolf-Czapek, Dresden 1908, wo auf S. 67 eine solche Einrichtung beschrieben ist.
(2) Woerles Bilder über das Geschlechtsleben der Neger Deutsch-Ostafrikas wären aber wohl auszuschalten.

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