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#1765

Hamburger Fremden-Blatt, 19.06.1914

[Hamburger Fremden-Blatt 19.06.1914 Ph. ...]

Hamburger Fremden-Blatt 19.06.1914

Ph. B.

Tanagra-Theater

Kein Gebiet hat uns in den letzten Jahrzehnten so viel Überraschungen gebracht, wie die Optik. Aus der Photographie, die uns erst den Sternenhimmel erschlossen hat, ist die Kinematographie hervorgegangen, deren Möglichkeiten noch gar nicht abzuschätzen sind. Und immer noch werden neue Gebiete erschlossen: die Verwendungsarten des Lichtes, auf dem unsere ganze Anschauung der Welt beruht, sind eben ohne Grenzen. Flammarion meint, dass unsere ganze Umwelt als eine Art von Illusion zu betrachten sei, hervorgerufen durch das Licht und die bestimmte Form, in der unser Auge es aufnimmt. Von diesem Gegenstand handelt das herrliche Werk des Dichter-Astronomen: "Lumen". Einen Begriff von der relativen Wahrheit der Behauptung Flammarions, ein Beweis dafür, wie die Lichtbrechung unsere Umgebung zu verändern vermag, bietet die neueste Illusion, die im sogenannten "Tanagra-Theater" in der Gartenbau-Ausstellung vorgeführt wird. In dem Namen liegt schon die Art dieser Bühne. Auf ihr erscheinen redende Tanagra-Figürchen, aber keine Marionetten, keine mechanischen Puppen, sondern wirkliche lebende Menschen - und dennoch in der Grösse und Zierlichkeit der weltbekannten Figürchen.

Auf der Bühne dieses Theaters sieht man nichts weiter als ein weiss lackiertes Schreibpult, dahinter an der Wand einen Gobelin. Das Theater verdunkelt sich für eine Sekunde und wird gleich wieder hell. Nun steht auf dem Pult ein weisses Tintenglas, dem auf wunderbare Weise die Akteure und Aktricen entsteigen, um auf dem Pultdeckel, ganz plastisch und lebendig, das Spiel zu beginnen. Man ist plötzlich nach Liliput versetzt, ja, wirklich, erst jetzt vermag man sich eine richtige Vorstellung von dem kleinen Volk zu machen, das uns der phantasiereiche Swift geschildert hat. Man kann sich kaum etwas Entzückenderes denken, als diese auf ein Minimum verkleinerten Menschen, von deren Wesenheit dennoch nicht das Geringste verloren geht. Mit dem Opernglas betrachtet, werden diese lebenden Figürchen nicht grösser, aber noch deutlicher, und enthüllen uns durch das verkleinerte Mass ihrer Körper eine wundersame Zierlichkeit, die sich mit nichts vergleichen lässt, weil das einzige Vergleichsobjekt, der lebende Liliputaner, nicht existiert. Hier tritt er wirklich in die Erscheinung und ist doch nur, wie es schon der Ausdruck mit sich bringt, eine Erscheinung des gebrochenen Lichtes, eine optische Illusion.

Irgendwo, vielleicht hinter dem Gobelin, vielleicht unter dem Fussboden, werden die Szenen, die auf dem Pultdeckel so niedlich vor sich gehen, in Lebensgrösse gespielt, gesprochen und gesungen. Was der Zuschauer vor sich sieht und was ihm so plastisch und greifbar erscheint, ist nur eine Spiegelung, deren Lichtquelle aber ganz unsichtbar ist. Das Ganze wirkt wie ein märchenhafter Zauber, der noch durch die Sprechstimmen und den schönen Kunstgesang erhöht wird. Denn die Kräfte, die in der Verborgenheit spielen, sprechen und singen, gehören einer vorzüglichen künstlerischen Klasse an und vermögen auch den verwöhnten Geschmack zu befriedigen. Am Mittwoch abend fand vor einem geladenen Publikum eine Sondervorstellung statt, die ein neues Programm einleitete. Es gab zunächst eine Tanzszene aus der Oper "Stradella", eine jener Episoden, die immer allerliebst wirken, denn in den Bewegungen des Tanzes erhöht sich die Zierlichkeit der lebenden Figuren. Ein zweites Tanzbild brachte die Tarantella aus derselben Oper. Aber ebenso viel Teilnahme und Beifall entfesselte das bekannte komische Reiseduett aus "Undine". Es folgte noch eine Szene aus "Bajazzo" und eine reizende Episode aus "Hänsel und Gretel". Zum Schluss erschien der Conférencier aus dem Tintenfass also ebenfalls in mehr als bescheidener Verkleinerung, um für den allerdings wohlverdienten Beifall zu danken.

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