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#1522

Hamburger Fremden-Blatt, 18.03.1911

[Hamburger Fremden-Blatt 18.03.1911 Die lebende Photographie ein ...]

Hamburger Fremden-Blatt 18.03.1911

Die lebende Photographie ein Volksbildungsmittel?

Über dieses zurzeit sehr aktuelle Thema hielt gestern im grossen Saale des Volksheims in Rothenburgsort Herr Redakteur Philipp Berges einen Vortrag. Zunächst gab der Vortragende eine Übersicht der Weltentwicklung im letzten Jahrhundert; er wies darauf hin, dass zu den vielen Wundern, die uns Wissenschaft und Technik gebracht hätten, auch der Kinomatograph gehörte, aus dessen Zukunft selbst ernste Gelehrte enthusiastische Hoffnungen setzten. Die wissenschaftliche Kinomatographie habe bereits eine grosse Zahl von naturwissenschaftlichen Aufklärungen gebracht, z. B. über die Eigenbewegung der Pflanzen, und die Hypokinomatographie verspreche sogar das Heilwesen segenbringend umzugestalten. In Verbindung mit dem Röntgenapparat projiziere man bereits durch den Kinomatographen lebende innere Organe von Menschen und Tiere in voller Tätigkeit auf die Leinwand, selbst den tiefsten Geheimnissen des Lebens, der Zeugung, glaube man durch das lebende Lichtbild auf die Spur zu kommen, würden doch bereits in den wissenschaftlichen Kinomatographischen Theatern die Vorgänge bei der Fortpflanzung niederer Lebewesen vorgeführt. Aber auch abgesehen von der Wissenschaft böte das lebende Lichtbild so vieles Schöne und Interessante, dass der Kreis der Möglichkeiten dieser Erfindung unbegrenzt erschiene. Vom bequemen Sitz eines Theaters aus vermöge man fremde Kulturen, Sitten und Gebräuche in fernen Ländern, die Schönheit der Natur unter entlegenen Himmelsstrichen, aktuelle Vorgänge aus der Zeitgeschichte, gleichviel, wo sie sich abgespielt hätten, zu beobachten.

Nach alledem, meinte der Redner, erschiene die Frage, ob die lebenden Photographien ein Volksbildungsmittel seien, wohl ziemlich überflüssig. Er gelangte aber dann auf sein eigentliches Thema, in dem er ausführte, dass die Möglichkeiten der Volksbildung durch den Kinomatographen wohl gegeben seien, aber zurzeit leider noch nicht ausgeführt würden. Im Gegenteil. Die Lichtbild-Theater, die wie Pilze nach dem Regen allerorten in die Erscheinung treten, seien zumeist von einem niederen Geschmack beherrscht. Das Schauerdrama, süssliche und sinnliche Szenen, das Detektiv- [Detektivdrama] und Verbrecherdrama nehmen den grossen Raum des Repertoires ein. Die Pflege dieses schlechten Geschmacks müsse ganz besonders verderblich auf die Jugend wirken. Die Schundliteratur, die von allen Seiten bekämpft würde, habe sich durch ein Hintertürchen ins Kino geflüchtet. Freilich sei dies nicht allein die Schuld der Besitzer von Lichtbild-Theatern, sondern läge an der Abhängigkeit Deutschlands von der Filmfabrikation, die fast ausnahmslos im Ausland, besonders in Frankreich und Amerika, betrieben würde. Tausende von Films seien auf eine minderwertige fremdländische Zuschauerschaft berechnet, die zum grössten Teil noch aus Analphabeten bestände. Leider würden diese Sachen auch in Deutschland verbreitet, eben weil die Lichtbild-Tbeater von jedem ausländischen Lieferanten abhängig seien. Freilich dürfe man auch das Kind nicht mit dem Bade ausschütten und müsse anerkennen, dass den minderwertigen Darbietungen viele künstlerisch wertvolle gegenüberständen, und dass eine Besserung der Verhältnisse in der letzten Zeit nicht zu verkennen sei. Nötig sei eine einheitliche Zensur, damit nicht Bilder, die vielleicht in Preussen abgelehnt seien, in Hamburg ruhig weitergespielt würden. Man möge indes der Zensur zuvorkommen, indem man selbst eine scharfe Auswahl träfe und sich von solchen Kinos fernhielte, deren stärkste Anziehungskraft der Hintertreppenroman sei. Jede neue Erfindung sei ohne Wert, wenn sie nicht auch das Gemüt entwickeln helfe.

Dem Vortragenden wurde von der Zuhörerschaft, die den grossen Saal bis auf den letzten Platz füllte, lebhafter Beifall zuteil. Im Anschluss an den Vortrag entwickelte sich eine bewegte, zum Teil erregte Diskussion, in der die Zuhörerschaft entschieden Partei gegen die Auswüchse in den Lichtbild-Theatern nahm.

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