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#10

Die Aktion, 1911, Jg. I, Nr.18, Sp.560-563

Pfemfert, Franz
Kino als Erzieher

Wir leben Vergangenheit und zehren Zukunft. Der Geschichtsschreiber kommender Generationen wird sich also mit uns und mit unserem Jahrhundert beschäftigen. Soll nun unser Zeitalter nicht als Krankenhausgeschichte der Kultur auf die Nachwelt kommen, wollen wir vor dem kritischen Auge des Historikers in sauberem Kulturgewande erscheinen, dann müssen wir beizeiten Hand anlegen und kulturelle Arbeit verrichten. Dann müssen wir unermüdlich gegen jede Unkultur kämpfen.

Der Kampf ist schwer. Vergebens wird man in dem Kulturschutt verfallener Menschheitsgeschichte nach einer Erscheinung suchen, die an trostloser Öde unserer modernen Zeit gleichkommt. Gewiss: in der Geschichte eines jeden Volkes lässt sich eine Wellenbewegung, ein Auf und Ab feststellen. Wir aber scheinen von dem Strudel Trivialität erfasst zu sein, der uns zu verschlingen droht.

Die Trivialität beherrscht (seit Jahrzehnten) die Situation. Wohin wir den Blick auch wenden, sie nistet überall. Wir finden sie in der Kunst und im Kunstgewerbe, in der Technik wie in der Architektur. Sie schleicht durch Hütten und Paläste und zwingt den Menschengeist in ihren Bann. Aus dem Verworrenen gewinnt der erfindungsreiche Geist das Neue. Aber das Neue, das unsere erfindungsreichen Geister aus dem Durcheinander der Zeit gewinnen, die Trivialität macht es sich sofort dienstbar. Unsere grossen Geister stehen (meist unbewusst und oft gegen ihren Willen) im Dienste der Unkultur. Ja, wir sind bereits so weit gekommen, dass wir bei jeder "epochemachenden" Entdeckung oder Erfindung sofort fragen: wie wird sie als Kulturhindernis ausgebeutet werden? Denken wir nur an den "grössten Mann des zwanzigsten Jahrhunderts"! Seit Jahrtausenden träumt die Kulturwelt den Traum von der "Eroberung der Luft". Nun wird der Traum Wirklichkeit. Und die erste (und wichtigste) Frage lautet jetzt: wie können wir diese Erfindung am vorteilhaftesten zum methodischen Menschenmord, im Kriege verwenden ...

Die Technik befindet sich im Schöpfungsrausche. Der Menschengeist hat sich die Naturkräfte in unerhörter Grossartigkeit abgerichtet. Die gezähmte und dressierte Elektrizität leistet uns Sklavendienste. Der Weg zu den Höhen der Kultur wäre frei, wenn nicht das Siebenmeilenstiefeltum der Trivialität jedem kulturellen Fortschritt entgegenstehen würde.

"Edison" heisst die Formel, auf die unsere Zeit zu bringen ist. "Edison" - die Paarung von Genialität und Trivialität. Wir sollten das Wort in Riesenlettern auf die Ballonhülle unserer aufgeblasenen Kultur schreiben. Dabei brauchen wir nicht einmal an den Erfinder zu denken, der diesen Namen trägt. Er ist nur ein Produkt seiner Zeit. Er ist sicher die Kraft, die das Gute will. Vielleicht ist auch er ob der Banalität unseres Zeitalters empört und sein Phonograph ist vielleicht nur als ein genialer Rachegedanke zu betrachten, den der beleidigte Geist gegen seine Zeit gefasst hat. Eine kreischende Satire. Ein seelenloser Anklageschrei gegen ein seelenloses Jahrhundert. An den Erfinder brauchen wir also nicht zu denken. Dennoch: "Edison" heisst der Schlächterruf einer kulturmordenden Epoche. Das Feldgeschrei der Unkultur.

Seelenlosigkeit ist das Merkmal unserer Tage. Seele haben heisst Individualität besitzen. Unser Zeitalter erkennt Individualitäten nicht an.

Man hat ja nur nötig, durch unser Berlin, das Steindenkmal der Seelenlosigkeit, zu gehen, um diesen Satz zu begreifen. Wir "entwickeln" uns. Aus den Sandwüsten von Gestern sind "hochherrschaftliche" Wohnhäuser gewachsen. Die Architektur hat Gelegenheit gehabt, sich zu betätigen. Und die Trivialität hat dabei wahre Orgien gefeiert. Seht euch doch den Jahrmarktsstil im neuen Berliner Westen an! Die Architekten haben hier in allen Sprachen gesprochen. Ein Babel der Stilkünste. Es gibt keinen Stil, der nicht nachgeäfft wäre. Und die Seelenlosigkeit schreit aus allen Fensterhöhlen. Mit einem plumpen Saltomortale sind unsere Baukünstler über alle Kulturansprüche hinweggesprungen.

Wenn wir so unsere "Geister" wüten sehn, dann werden wir von der breiten Volksmasse kaum Gutes erwarten können. Aber auch die bescheidensten Ansprüche werden noch unterboten.

Will man sich ein Bild von der Kultur eines Volkes machen, so nehme man die Vergnügungsstatistik zur Hand. Sie spricht eine klarere Sprache als jene Berichte, die uns alljährlich die Volksbibliotheken auf den Tisch legen. Die Vergnügungsstatistik ist das Mass, mit dem der Stand der Volksbildung zu messen ist. Und denen, die sich aus innerer Pflicht berufen fühlen, die Hausaltäre unseres Volkes zu hüten, wird diese Statistik manche Hoffnung rauben.

Volksbelustigungen werden stets die Geschmackkundgebung der Masse bedeuten. Werden immer mit Volksinstinkten rechnen. Das haben die alten Jahrmarktsfeste getan - und das tut heute der Kinematograph. Kino ist nun der Unterhalter der breiten Volksschichten. Ihr Lehrer und Erzieher. Wahrlich: dieser Kino ist der passende Ausdruck unserer Tage. Dieser Abklatsch der nackten Wirklichkeit, diese brutale Bildreporterei konnte nur in einer Zeit zu Ehren kommen, in der die Phantasie in die Leichenschauhäuser und auf die Verbrecherfährten gedrängt ist. Nick Carter, Kino und Berliner Mietshäuser, diese triviale Dreiheit gehört zusammen. Und angesichts dieser Zeiterscheinungen ist es schwer, von Kulturfortschritten zu träumen.

Ich möchte nicht missverstanden sein: auch ich erblicke in der Erfindung des Kinematographen einen Triumph des Menschengeistes. Die Maschine wird, vervollkommnet, der Wissenschaft grosse Dienste leisten. So sind zum Beispiel bereits heute Forscher damit beschäftigt, mit Hilfe des Mikroskops kinematographische Aufnahmen des Entwicklungsganges der verschiedenen Bazillen vorzunehmen. Der "Kinemacolar", der neuerdings gezeigt wird, bedeutet auf dem Wege der Photographie in Naturfarben ein gut Stück vorwärts. Sicher: das alles ist nicht zu unterschätzen. Aber es gleicht den Schaden nicht aus, den Kino als Erzieher im Volke angerichtet hat und anrichtet. Dies alles ändert daran nichts, dass Kino der Trivialität Siege feiern hilft und den Geschmack des Volkes verwüstet.

Man hat, als Hauptvorzug des Kino, die Wiedergabe prächtiger Landschaftsbilder gepriesen. Nun, in den Kunstkosthallen, die unsere Volksgenossen besuchen, "ziehen" diese Bilder nicht. "Er ist bei meiner Frau", "Die Qualen der Wilddiebstochter", "Der Mord in der Villa Steinheil" - so lauten die "zugkräftigen" Programmnummern. Und im "Parterre" fliessen Tränen des Mitleids, wenn die Tugend zu unterliegen scheint. Wie man von "Bildungswerten" sprechen kann, wenn man die Darbietungen der Kinotempel aus eigener Anschauung kennt, ist mir nicht recht klar. Ja, selbst wenn nur wirklich gute Films Verwendung fänden, ich würde dem Volke diese seelenlose, phantasieabtötende Kost vorenthalten.

Man hat die "Veredelung der Kinematographie" gefordert. Bestrebungen, den "Kunstwert" der Films zu heben, machen sich bemerkbar. Aber die Proben, die wir vorgesetzt erhielten, entsprachen durchaus nicht den Verheissungen der Veranstalter. So hat man "Dichterabende mit Kinobegleitung" arrangiert. Detlev von Liliencron musste herhalten. Ein Vorleser gab des Dichters Balladen zum Besten und Kino lieferte die Illustration! Ich weiss nicht, vielleicht ist es mir nur so ergangen, aber ich kann mich dieses "Dichterabends" nicht ohne Ekelempfindungen erinnern. Dann soll doch lieber das Schauerdrama die Films beherrschen.

Ein schlechtes Buch kann die Phantasie des Lesers irreleiten. Kino vernichtet die Phantasie. Kino ist der gefährlichste Erzieher des Volkes.

Dennoch hat man ihm jetzt auch die Schulstuben eröffnet. Kino wird an "nationalen" Feiertagen den Schulkindern vorgeführt. Zur Stärkung des Patriotismus. Das Kind sieht seinen Kaiser zur Parade reiten (Gesang der Klasse : "Heil dir ..."). Wird mit den einzelnen Sprösslingen des Herrscherhauses auf kinematographischem Wege bekannt gemacht. Manöverbilder folgen. Der gut preussische Militärgeist schlägt Rad vor Kinderseelen ...

"Edison" heisst die Formel der Zeit.

Kino in der Schule. Im trauten Familienheim der Phonograph. Des Abends, als Vergnügen, wieder Kino - man muss schon die Stunde segnen, die den Detektivroman zu seinem Rechte kommen lässt.

... Und inzwischen arbeiten die Besten der Nation daran, dem Volke eine bessere Zukunft zu schaffen. Auf allen Gebieten des menschlichen Wissens ein Vorwärtsdrängen, ein Suchen nach neuen Bahnen. Die Fackelträger der Kultur eilen zur Höhe. Das Volk aber lauscht unten dem Geklapper des Kino und legt seinem Phonographen eine neue Walze auf ...

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